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- Filmkritik »Marvin«
Keine Masturbation mit Pfirsichen
Im Kino: »Marvin« erzählt die Geschichte eines jungen Schwulen aus der französischen Provinz
Der schwule Film hat seine Konventionen. Gerne geht es um zarte Knaben in schwieriger Umgebung. Unverständnis oder gar Hass schlagen den sensiblen Burschen entgegen, die sich doch meist nur durch ihre Intelligenz, ihre Schönheit und eben die Vorliebe für das eigene Geschlecht von der grauen Heteromasse unterscheiden. Pubertäres Leid scheint immer mit dem Ausstellen adoleszenter, androgyner Schönheit einherzugehen. Es ist, als würden alte Männer ständig Filme über das Einzige drehen, was ihnen als Halm im Leben bleibt: die heilige Jugend.
Umso überraschender, dass beim neuesten Beitrag zum Thema die luxemburgisch-französische Regisseurin Anne Fontaine am Werk ist, die 2009 in ihrem Film »Coco Chanel - Der Beginn einer Leidenschaft« das junge Leben der französischen Modedesignerin Coco Chanel verarbeitete.
Marvin lautet der Name des Protagonisten in ihrem aktuellen Film. Es geht um ein schüchternes, künstlerisch veranlagtes Kind, das in einem Kuhkaff im nordostfranzösischen Département Vosges seinen Kreuzgang geht. Der fette Vater furzt, der brutale Bruder brüllt, die mürbe Mutter meckert. In der Schule wird Marvin gehänselt und missbraucht: »Komm her, du kleine Schwuchtel, blas mir einen, das gefällt dir doch!« Aufkeimende Lust am Schauspiel und Aussichten auf Erlösung durch ein Internat halten den Geschundenen am Leben.
Gleich viel Anteil auf der Leinwand bekommt der Weg des jungen Erwachsenen Marvin, dessen Erlebnisse im metropolitanen Paris geschildert werden. Erzählt wird von der Selbstfindung eines traumatisierten Provinzschwulen. In der Stadt der Liebe strahlt die Kunst als helle Sonne der Missverstandenen, gleichzeitig locken die Reize Sex und Geld.
Nicht zufällig erinnert dieser Themenkomplex an zwei kürzlich viel beachtete Titel der französischen Literatur: Édouard Louis’ »Das Ende von Eddy« (Fischer, 2015) und Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« (Suhrkamp, 2016) standen unübersehbar Pate. So soziologisch interessant dieser Themenkomplex - Klassenverhältnisse, »Normalität«, Homosexualität, Coming-out - sein mag, so wenig wird Anne Fontaine ihm in diesem Film gerecht.
Alle genannten Schlagwörter werden angedeutet und miteinander verwoben, aber führen am Ende doch zu wenig Erkenntnis, außer der Profanität, dass die Selbstfindung im Leben eines jungen Menschen sehr wichtig ist und man sich am besten nicht unterkriegen lässt. Wenn auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen, haben sich andere schon deutlich bemerkenswertere Gedanken dazu gemacht: Xavier Dolan grundsätzlich, Stephen Daldry mit »Billy Elliot«, Gus Van Sant mit »My Own Private Idaho«, zuletzt Luca Guadagnino mit »Call Me By Your Name« und Greg Berlanti mit »Love, Simon«. Schier endlose Möglichkeiten, um sich an diesen Fragestellungen cineastisch abzuarbeiten.
Man könnte einwenden, dass die genannten Beispiele nicht direkt französisch sind oder zumindest viel mehr mit der Liebe zu tun haben. Wenigstens erspart einem »Marvin« endlose Szenen, die sich räkelnde schlaksige Adoniskörper zeigen, sowie Masturbationsfantasien mit reifen Pfirsichen. Wer nicht genug von der Sommerzeit-Traurigkeit bekommen kann oder immer noch Hilfe beim Coming-out in Niederbayern sucht, dem sei dieser Film ans Herz gelegt.
»Marvin«, Frankreich 2017. Regie: Anne Fontaine; Darsteller: Finnegan Oldfield, Grégory Gadebois, Catherine Mouchet, Jules Porier. 114 Min.
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