Auf der Spur der Steine

»Seven Stones« ist die Uraufführung, der »Feurige Engel« die gelungenste Produktion der Festspiele in Aix-en-Provence

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit Uraufführungen schmückt sich auch das Festival Aix-en-Provence gerne. Tapfer behauptet es die These, dass es Neues braucht, damit die Oper überlebt. Es ist allerdings die nach vier Jahren zurückgekehrte »Zauberflöte«, bei der man studieren kann, wie enthusiastisch Publikumsbegeisterung klingen kann. Natürlich stimmt beides irgendwie. Aix-en-Provence oder Salzburg ohne Mozart wäre so absurd wie Bayreuth ohne Wagner. In Südfrankreich gehört es darüber hinaus zum Programm, den eurozentristischen Blick aufzubrechen und sich bewusst Einflüssen und Künstlern des südlichen Mittelmeerraumes oder Osteuropas zu widmen.

Die aktuelle Uraufführung »Seven Stones« des tschechischen Komponisten Ondřej Adámek (Jhrg. 1979) war schon für 2016 vorgesehen. Sie musste aus Finanzierungsgründen aufgeschoben werden, obwohl nicht mal ein großes Orchester gebraucht wird. Dabei liegt in der Machart schon das Besondere der Novität. Das Komponierte bewegt sich im Grenzbereich des Musikalischen hin zum puren Rhythmus des Gesprochenen und sporadischem Überspringens ins Melodische eines chorischen oder solistischen Singsangs. Die Struktur des 80-minütigen Stückes ist eher oratorisch als von einem musikalischen Handlungsgestus beherrscht. Im dafür bestens geeigneten Theater Jeu de Paume hat Regisseur Éric Oberdorff diese (beinahe) A-cappella-Kammeroper für vier Solo- und zwölf Chorsänger so in Szene gesetzt, dass das suchende Kombinieren der zum Teil exzentrischen Instrumente (von Flaschen und gestrichenen Sägeblättern, in einem Gerüst schwebender Pauke bis zu exotischen Spielarten von Schlagwerk und Blasinstrumenten) eine ständige Bewegung auch des Dirigenten Léo Warynski einschließt. Einmal umrunden sie allesamt sogar den kompletten Zuschauerraum.

Die Geschichte der Steine besteht im Librettio des Isländers Sjón etwas überdeutlich aus diversen Assoziationen und Gedankensprüngen. Es geht um einen Steinesammler (Nicolas Simeha), den es in alle möglichen Weltgegenden treibt. Der Text mäandert zwischen mythisch, tragisch, biblisch archaisch und banal. Vom Turmbau zu Babel bezieht er seinen Treibstoff, und nach etlichen Umwegen (unter anderem über eine Tangobar in Buenos Aires und Japan) landet er bei Jesus und dessen berühmten »… der werfe den ersten Stein«. Was noch die nachvollziehbarste, gleichwohl recht gut abgehangene Botschaft ist. Immerhin lernen wir in der klimatisierten Kühle des Stadttheaters, dass nicht nur das Werfen von Steinen, sondern auch das Sammeln die Gesundheit gefährden kann.

Im Bühnenbild einer neuen »Dido und Aeneas«-Produktion haben es die Steine zu einer imponierenden Kai- oder Palastmauer bei der karthagischen Königin Dido gebracht. Der Henry Purcells Oper von 1689 hinzugefügte Prolog mit der Vorgeschichte der Dido in einer Atmosphäre, die die aktuelle Fluchtmisere assoziiert, weckt freilich eine Erwartung, die dann in der konventionellen Inszenierung von Vincent Huguet nicht eingelöst und auch musikalisch nicht kompensiert wird.

Ein Volltreffer hingegen war zuvor Mariusz Trelinski mit Prokofjews »Feurigem Engel« und Aušrinė Stundytė in der Rolle der Renata gelungen. Trelinski befreit den Kern der Geschichte einer missbrauchten, traumatisierten Frau von allem historischen Hokuspokus-Beiwerk, macht den Plot in einem tristen, mehrstöckigen, cineastisch düsteren Hotel als imponierend aktuelles Psychodrama kenntlich, wie man es so klar noch nicht gesehen hat. Dazu ein hervorragendes Ensemble mit einem Kazushi Ono am Pult des Orchestre de Paris, der aus seiner Vertrautheit mit dieser Musik packende Spannung auflodern lässt.

Auf dem Cours Mirabeau schließlich und für alle frei zugänglich setzt das Opernprojekt Orfeo & Majnun einen europäisch-arabischen Brückenschlag an das Ende der Premierenwoche. Ein Spektakel, das zwei bekannte Mythen mischt, mit Eifer zelebriert wurde, aber doch mehr der Kategorie »gut gemeint« zuzuordnen ist. Im nächsten Jahr übernimmt Pierre Audi, der über drei Jahrzehnte die Oper in Amsterdam leitete, die Intendanz der Festspiele. Dann unter anderem mit Mozarts »Requiem«, »Tosca«, »Mahagonny« und Rihms »Jacob Lenz« und mit einer Uraufführung.

Das Festival dauert noch bis zum 25. Juli. www.festival-aix.com

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal