Commonismus klingt nicht nur wie Kommunismus
Simon Sutterlütti und Stefan Meretz stellen ihre Utopie der Aufhebung des Kapitalismus und einer »Freien Gesellschaft« vor
Dieses Buch richtet sich an all jene, die das Träumen nicht verlernt haben und auch das Mantra der Alternativlosigkeit zum Gegenwärtigen nicht akzeptieren wollen. Der Soziologe Simon Sutterlütti und der Informatiker Stefan Meretz, beide aktiv im Commons-Institut (letzter dessen Mitbegründer), sind der Meinung, dass gesellschaftliche Utopien im öffentlichen Raum kaum mehr stattfinden. Sie wollen zur Belebung einer Debatte über gesellschaftlich transformierende Ideen anregen.
Die Autoren definieren als Ziel ihrer Utopie eine »Freie Gesellschaft«, die sich einerseits von jedweder Herrschaft und andererseits von systemischen Sachzwängen befreit hat. Im Kapitalismus handeln die Menschen erzwungenermaßen profitorientiert und damit zunehmend auch an ihren eigentlichen Bedürfnissen vorbei, was sich letztlich in verschiedenartigen Krisen und Entwicklungswidersprüchen ausdrückt. »Es ist wichtig, die gesellschaftliche Vermittlung im Kapitalismus zu verstehen«, betonen die Autoren. »Die Qualität des Kapitalismus ist die ›unbewusste Gesellschaftlichkeit‹. Sie entsteht, wenn zwei Dynamiken zusammenkommen: Die gesellschaftliche Vermittlung stellt sich «hinter dem Rücken» der Menschen her (Selbständigkeit) und dreht das Verhältnis von subjektiv gewollter Bedürfnisbefriedigung (sozialer Prozess) und objektiv erzwungener Verwertung (sachlicher Prozess) um. Das Moment der Selbständigkeit, das jeder Gesellschaft zugrunde liegt, wird im Kapitalismus zur Verselbstständigung von Sachzwängen gegenüber den Bedürfnissen der Menschen. Wir können den Kapitalismus nicht mehr kontrollieren, sondern dieser kontrolliert uns.« Sutterlütti und Meretz arbeiten nachvollziehbar heraus, dass dahingegen »Freiwilligkeit« und »kollektive Verfügbarkeit« die Mindestvoraussetzungen und damit auch Grundpfeiler ihrer »Freien Gesellschaft« sein müssten.
Das Buch lässt sich in drei große Komplexe unterteilen. Der erste befasst sich damit, den Status Quo zu beschreiben und die Kritik am Kapitalismus zu begründen. Zudem wird hier Stellung zu bisherigen, historischen Versuchen zur Überwindung des Kapitalismus bezogen und Kritik an aktuellen Strategien zur Transformation geübt, die zumeist nur politisch-staatliche Reformen oder andererseits einen revolutionären Umbruch durch Machterringung anvisieren. Warum beide Wege nicht zielführend sein können, sondern bestenfalls hilfreich unterstützend, wird von dem Autorenduo klar formuliert und gut begründet.
Den mittleren Teil des Buches widmen Sutterlütti und Meretz ihrem Hauptanliegen, nämlich der Wiedereröffnung von Utopiedebatten. Sie versuchen, eine generelle Theorie von Utopien zu entwerfen, ohne dabei ein zu konkretes Bild einer möglichen Zukunft »auszupinseln«.
Im dritten abschließenden Teil stellen sie den »Commonismus« als ihre kategoriale Utopie vor sowie ihre Aufhebungstheorie, die sie »Keimformtheorie« tauften. Diese gehe davon aus, dass das Neue im Alten bereits als Keim angelegt, jedoch nicht dominant sei. Unter entsprechenden Vorbedingungen, die auch diskutiert werden, könnte diese Vorform jedoch Relevanz und letztlich Dominanz erlangen. »Eine Utopie, die das Ende von Knappheit im Zentrum hat, wird die Vorform in technischen Entwicklungen sehen. Eine Utopie, die an zentrale Planung glaubt, wird politisch-staatliche Vorformen suchen. Unsere Utopie findet ihre Vorform in neuen Beziehungen zwischen Menschen«, heißt es hier.
Die Utopie des »Commonismus« wird bestimmt durch das sogenannte »Commoning«, eine soziale Praxis, deren ureigenes Wesen es ist, inkludierend zu wirken. Das heißt, die Bedürfnisse anderer Menschen in die eigene Handlungslogik einzubeziehen und zu berücksichtigen, weil dies letztlich auch zum eigenen Vorteil sei. Damit wäre die exkludierende, also ausgrenzende und trennende Wirkungsweise, die dem Kapitalismus systemisch innewohnt, aufgehoben.
Die Autoren Sutterlütti und Meretz knüpfen freilich an die Gedanken vieler Vordenker an, kritisieren diese aber auch fundamental. Sie beschreiben systemische Hebelpunkte für Veränderung und präsentieren neuartige (Denk-)Ansätze, die paradoxer- und gleichzeitig erhellenderweise bisher wenig theoretische, dafür aber bereits viel praktische Verbreitung finden. Außerdem bereichern sie ihr Werk mit sehr spannenden Erkenntnissen und Schlüssen, wie beispielsweise einer überraschenden Kritik an der Notwendigkeit von Ethik oder dem Wesen von Gemeinschaften. Erscheinen diese den meisten emanzipatorisch denkenden Lesern als essenziell, entlarven die Autoren die Herausbildung beider Bedürfnisse auf beeindruckende Weise als teils problembehaftete Symptome des Kapitalismus, die vom »Commonismus« ebenfalls mit aufgehoben würden.
»Die hier entwickelten Begriffe muten kompliziert an. Sind sie auch«, räumen die Autoren ein und liefern darum auch hilfreiche, kurze, knackige Begriffsbestimmungen. »Unser Ziel ist, allgemeine Bestimmungen für den Mensch-Gesellschafts-Zusammenhang zu gewinnen. Das Problem liegt darin, dass wir Gesellschaft als transpersonale Kooperation nicht sinnlich erfahren. Wir können nur ihre Wirkungen in kleinen Ausschnitten interpersonal und unmittelbar wahrnehmen. Staat, Patriarchat, Markt erleben wir nicht unmittelbar, sondern wir erleben nur ihre Auswirkungen. Doch die abstrakt anmutenden Worte brauchen wir, um das interpersonale Erleben zu begreifen, indem wir es auf den Begriff bringen.«
Sutterlütti und Meretz geben einen wertvollen Debattenanstoß. Ihrem Buch ist eine breite, interessierte Leserschaft zu wünschen.
Simon Sutterlütti/ Stefan Meretz: Kapitalismus aufheben- Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken. VSA-Verlag, 256 S., br., 16,80 €.
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