• Kultur
  • Humanes Selbstverständnis

Sterben wie im Märchen

Ilja Seiferts Essays zu einer Ethik zwischen Embryo und Einäscherung

  • Ernst Luther
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Buchtitel mag irritieren, denn um das Sterben geht es am wenigsten. Es geht um das Leben, um das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen: »Es geht um unser humanes Selbstverständnis: Nehmen wir uns an, oder sortieren wir einander aus?«

Immer, so schreibt Ilja Seifert im Geleitwort zu seinem Buch, »geht es um das Menschenbild, von dem wir unsere Gesellschaftskonzeption ableiten. Es geht um das Große und Ganze«. Und darüber hat Ilja Seifert aus der eigenen Erfahrung seit dem 16. Lebensjahr, durch einen Unfall im Halswirbelbereich querschnittsgelähmt, trotzdem erfolgreich studiert, und promoviert, aktiv leitend fast drei Jahrzehnte in den Behindertenverbänden und fast zwei Jahrzehnte als Mitglied der Linksfraktion im Bundestag uns viel zu sagen.

Aus der Bundestagsarbeit stammen die meisten Beiträge. Einen wichtigen Platz nimmt dabei die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Das sind immerhin 600 Millionen auf der Welt und über acht Millionen in Deutschland. Wie es die Konvention benennt, geht es um Menschenrechte, nicht um fürsorgliches Mitleid. Es geht um Teilhabe, um Gerechtigkeit und Freiheit. Jedoch da liegt noch manches im Argen, zum Beispiel in der Arbeitsmöglichkeit, die erlaubt, sinnvolle Tätigkeit zu verrichten und damit den Lebensunterhalt zu bestreiten. Für Arbeitgeber gibt es sogar eine gesetzliche »Beschäftigungspflicht«.

»Wie sieht aber die Realität aus? 27 Prozent aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber haben gar keine behinderten Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter. Weitere 34 Prozent kommen ihrer Beschäftigungspflicht nur teilweise nach.« Wir sind hier bei einem wichtigen Thema, der Gerechtigkeit. Schon in der Antike wusste der Philosoph Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) zu unterscheiden zwischen der »austeilenden Gerechtigkeit« - jeder erhält das Gleiche und der »ausgleichenden Gerechtigkeit« dem Schwächeren wird Unterstützung gegeben.

Ilja Seifert verweist auf folgenden Sachverhalt: »Nach wie vor unterliegen die realen Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen und seelischen Erkrankungen größeren Erschwernissen als bei anderen Menschen … Konkret gesagt: Behinderungsbedingte Nachteile sind auszugleichen. Nur so können Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit hergestellt werden.« Im Jahr 2008 setzte sich der Autor als Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE für ein »Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile (NAG)« ein.

Viola Schubert-Lehnhardt hat aus ihren Unterrichtserfahrungen darauf verwiesen, dass BerufsschülerInnen ihr beispielsweise unumwunden gesagt haben, »dass sie nicht bereit wären bzw. sind, in einer solidarischen Krankenversicherung auch für die Behandlung behinderter Menschen mitzubezahlen. Deutschland möge doch endlich das private Versicherungsmodell durchsetzen, wo jeder nur noch für sich selbst verantwortlich sei.«

Alles Nachdenken über ein menschenwürdiges Leben schließt Gedanken über den Beginn und das Ende des Lebens ein. Das bedeutet nicht nur die Auseinandersetzung mit der Ideologie vom »minderwertigen« und/oder »lebensunwerten« Leben, sondern auch die Überlegung, wo und wie sollte der Tod eintreten. Insofern ist der Buchtitel natürlich treffend, denn sowohl der sanfte Abschied im Kreis der Familie als auch die Überlistung des Todes im Märchen vom Gevatter Tod, der getäuscht werden soll, indem das Bett anders steht, sind ein aktuelles Thema geworden.

Die Familie ist häufig weit im Land - bis in das Ausland - verstreut, der Todkranke liegt in einem Krankenhaus oder in einem Pflegeheim. Seit der Möglichkeit, einen Menschen nach einem Unfall künstlich zu beatmen, wuchs die Hoffnung nach einem Organersatz. Das Sterben wieder in die Mitte holen, Zeit zu finden, über das Lebensende zu sprechen, Abschied nehmen als wichtig ansehen - über Entfernungen hinweg - ist dem Autor ein wichtiges Anliegen. Er sagt: »Also lasst uns das Sterben in die Mitte holen, und wir werden besser leben.«

Mit Peter Porsch, der das Nachwort für dieses Buch schrieb, bin ich darin einig, dass man nicht mit jeder Auffassung des Autors übereinstimmen muss. So hält Ilja Seifert die Organtransplantation für »ein falsches Ziel«: »Ich halte den Weg über Organersatz für eine Sackgasse. Er ist ethisch bedenklich, wenig nachhaltig und weckt unerfüllbare Hoffnungen.« Seine Bedenken treffen die Hirntod-Definition und die Marktgesetze im Organhandel. Da gibt es triftige Gründe, aber ich kenne die Transplantation in der Deutschen Demokratischen Republik auch ohne Marktgesetze - und da wurden an der Universitätsklinik in Halle ebenso viele Transplantationen von Nieren erreicht wie in Frankfurt am Main.

Es ist schon richtig und wichtig, zu klären, was ein richtiges und was ein falsches Ziel ist. Richtig war in der DDR die Impfung gegen die Pocken, die Poliomyelitis, die Masern, die Überwindung der Tuberkulose. Es hat Zeiten gegeben, da war die Säuglingssterblichkeit in der DDR niedriger als in der BRD - von den USA gar nicht zu reden.

Ein falsches Ziel ist der Eingriff in das Genom, um Menschen zu verbessern. 1998 verkündete der amerikanische Biologe Lee Silver in seinem Buch »Das geklonte Paradies. Künstliche Zeugung und Lebensdesign im neuen Jahrtausend«: »Wenn Eltern das Recht haben, mehr als 100 000 Dollar für eine exklusive Privatschule auszugeben, warum sollten sie dann nicht das Recht haben, denselben Beitrag zu investieren, dass ihr Kind einen ganz bestimmten Gensatz erbt?«

Schon 2005 polemisierte ich gegen diesen Traum vom geklonten Paradies. Seit dieser Zeit beschäftigt viele Forscher die Frage, ob die Medizin alles darf, was sie kann oder ob es auch ethische Grenzen geben soll. Ilja Seifert kann die Forschung und Praxis nicht aufhalten, aber er kann mit diesem Buch aufklären, Folgen aufzeigen und Menschen gewinnen, die solche Grenzen - über die Ethik hinaus - in Rechtsformen gestalten.

Ilja Seifert: Ethik zwischen Embryos und Einäscherung. Essays aus zehn Jahren. Mit einem ergänzenden Beitrag von Viola Schubert-Lehnhardt und einem Nachwort von Peter Porsch. Karin Fischer Verlag, 181 S., geb., 17,40 €.

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