Abnicken oder den Aufstand wagen

Ursula von der Leyen will EU-Kommissionschefin werden. Ob sie im Europaparlament eine Mehrheit erhält, ist unklar

  • Peter Eßer, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.

Wagt das EU-Parlament den Aufstand? Lehnt es die von den Staats- und Regierungschefs auserkorene Kandidatin Ursula von der Leyen für die Präsidentschaft der EU-Kommission ab? Am Dienstagvormittag stellt sich die CDU-Politikerin und amtierende deutsche Verteidigungsministerin zunächst in Straßburg den EU-Abgeordneten. Am Abend soll abgestimmt werden. Bisher hat von der Leyen lediglich die Unterstützung der 182 Abgeordneten der Fraktion der konservativen Europäischen Volkspartei EVP sicher. Um Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seinem Amt nachzufolgen, benötigt sie die absolute Mehrheit aller Sitze im EU-Parlament. Derzeit liegt die bei 374.

Eindeutig in ihrer Ablehnung sind die europäischen Linken und Grünen. Özlem Alev Demirel von der Linken bezeichnete ein Treffen mit von der Leyen als »mehr als ernüchternd«. Problematisch sind für die Linken etwa das klare Bekenntnis von der Leyens zur NATO, zu geringe Ambitionen beim Klimaschutz und ein fehlender konkreter Plan, um das Flüchtlingssterben im Mittelmeer zu beenden.

Von der Leyen tritt zurück

Ursula von der Leyen (CDU) will ungeachtet des Ausgangs der Abstimmung im EU-Parlament ihr Ministeramt niederlegen. »Unabhängig vom Ausgang werde ich am Mittwoch als Verteidigungsministerin zurücktreten«, kündigte von der Leyen am Montag auf Twitter an.

Sie wolle ihre »volle Kraft in den Dienst von Europa« stellen, betonte sie vor dem am Dienstagabend anstehenden Votum über den Vorsitz der EU-Kommission. »Ich möchte morgen das Vertrauen des Europäischen Parlaments gewinnen«, schrieb von der Leyen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Entscheidung ihrer Parteikollegin als »starkes Signal« für ihre angestrebte Wahl gewertet. Von der Leyen mache deutlich, dass sie sich »für eine neue Etappe ihres Lebens entschieden hat, dass sie mit ganzer Kraft natürlich eintreten möchte dafür, dass sie Kommissionspräsidentin wird«, sagte Merkel am Montag in Görlitz. Agenturen/nd

Letztere beiden Punkte sind auch für die Grünen-Fraktion essenziell. Ihrer Ko-Vorsitzenden Ska Keller zufolge stellt zudem der Umstand, dass von der Leyen nicht als Spitzenkandidatin bei der EU-Wahl angetreten ist, »ein großes Hindernis« dar.

Weniger kategorisch ist die Ablehnung der Rechtsaußen-Fraktion Identität und Demokratie (ID). Unter diesem Banner haben sich unter anderen die AfD, die fremdenfeindliche italienische Lega und die französischen Rechtspopulisten vom Rassemblement National (vormals Front National) versammelt. Die Zustimmung von ID-Abgeordneten für von der Leyen sei »wenig wahrscheinlich«, sagte ein Fraktionssprecher. Allerdings hat der italienische Regierungschef Giuseppe Conte die Lega-Abgeordneten zur Unterstützung von der Leyens aufgerufen. Der parteilose Conte hat den Personaldeal der Staats- und Regierungschefs, aus dem die Kandidatur der Deutschen hervorging, unterstützt und erhofft sich als Gegenleistung ein wichtiges Portfolio für den künftigen italienischen EU-Kommissar - etwa die Finanzpolitik. Die Lega regiert in Italien zusammen mit der Fünf-Sterne-Bewegung.

Auch die eine oder andere Stimme aus der rechtskonservativen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) scheint möglich. Die mit Abstand größte Delegation stellt dort die polnische Regierungspartei PiS. Kleine und teils sehr weit rechts angesiedelte Delegationen sind etwa die Fratelli d’Italia (»Brüder Italiens«) und die spanische Partei VOX. Von der Leyens NATO-Freundlichkeit und der Umstand, dass sie verheiratete siebenfache Mutter ist, kommen bei den Polen und anderen teils ultra-katholisch eingestellten EKR-Mitgliedern gut an.

Die Sozialdemokraten und die Liberalen sind nach der EVP die zweit- beziehungsweise drittgrößte Fraktion im Parlament. Ihre Stimmen wollen sie nicht unter Wert verkaufen. Im Anschluss an Gespräche mit von der Leyen vergangene Woche setzten sie Schreiben mit Forderungen an die Bewerberin auf. Die Liberalen haben zwei Kernanliegen: einen neuen Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der EU mit der Möglichkeit, Mitgliedstaaten zu sanktionieren, und eine herausragende Stellung für die liberale Spitzenkandidatin Margrethe Vestager innerhalb der EU-Kommission. Die Zustimmung der Liberalen scheint in Reichweite.

Bei den Sozialdemokraten richtet sich die Skepsis (abgesehen von der SPD, die von der Leyens Nominierung als Affront sieht) nicht unbedingt gegen die Kandidatin. Sie fordern stattdessen mehr Zeit, um sie und ihr Programm kennenzulernen. Er könne jetzt einfach noch nicht für die Deutsche stimmen, sagte etwa der französische Sozialist Pierre Larrouturou. Sie hat keinen EU-Wahlkampf geführt und ist außerhalb Deutschlands kaum bekannt. Larrouturou würde sich lieber noch Zeit für Verhandlungen lassen: »In Deutschland haben die Koalitionsverhandlungen schließlich auch fünf Monate gedauert.«

Das Schreiben der Sozialdemokraten an von der Leyen enthält dann auch eine ganze Liste von Forderungen in allen politischen Bereichen. Eine zufriedenstellende Antwort auf den gesamten Katalog innerhalb weniger Tage ist kaum machbar. Die größte Delegation, die spanischen Sozialisten, wird wohl dennoch für von der Leyen stimmen. Der sozialistische spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez hat den Personaldeal und damit von der Leyens Nominierung unterstützt. Der amtierende spanische Außenminister Josep Borrell soll im Gegenzug der nächste EU-Außenbeauftragte werden. Am Montagmorgen rief Borrell seine Parteikollegen in Straßburg offen dazu auf, für von der Leyen zu stimmen.

Die für Dienstagabend angesetzte Abstimmung ist geheim. Dennoch wird es anschließend wohl ein sehr klares Bild darüber geben, wer wie gestimmt hat. Wird von der Leyen mit den Stimmen rechter und rechtextremer Parteien zur Kommissionspräsidentin gewählt, hat im pro-europäischen Lager kaum jemand etwas gewonnen. Derzeit scheint dieses Szenario jedoch genauso denkbar wie ein Sieg von der Leyens mit sozialdemokratischer und liberaler Unterstützung oder auch eine Ablehnung durch das Parlament - mit kaum vorhersehbaren Folgen. Oder auch eine Verschiebung der Abstimmung in letzter Sekunde.

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