Kenia, Vanuatu, Stockholm

Welche Koalition in Sachsen künftig regiert, ist völlig offen.

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

An der Basis regiert Schwarz-Blau. In Sachsens Kommunen konstituieren sich gerade die im Mai gewählten Lokalparlamente, und vielerorts - ob Zwickau, Radebeul oder Chemnitz - zeichnet sich ab, dass CDU und AfD, teils ergänzt um FDP und Freie Wähler, gut harmonieren. In Chemnitz etwa gab es einen Schulterschluss bei der Besetzung des Jugendhilfeausschusses, der Ungutes für die alternative Jugendkultur erwarten lässt. Mancher vermutet, dass solche Kooperationen in den Kommunen nun im Land Schule machen - Devise: Schwarz-Blau wächst von unten.

Dennoch gilt es als unwahrscheinlich, dass CDU und AfD in Sachsen bereits 2019 ihre bundesweit erste Koalition eingehen. Zwar kämen sie jüngsten Umfragen zufolge auf etwa 54 Prozent. Auch gibt es inhaltliche Übereinstimmungen und eine gewisse personelle Nähe: Weil in die AfD viele enttäuschte CDU-Mitglieder eingetreten sind, gilt sie als »Fleisch von deren Fleische«. Gewichtige Gründe sprechen aber dagegen. Die Bundespartei hat einen Abgrenzungsbeschluss gefasst. Auch die Landesspitze schließt ein Bündnis aus. Spitzenkandidat Michael Kretschmer hat die Absage so deutlich und häufig formuliert, dass er kaum plausible Gründe fände, davon abzurücken. Lange wurde orakelt, Kretschmer könne womöglich nach der Wahl aus dem Rennen sein - weil seine Partei zum dritten Mal nach Bundestags- und Europawahl eine Klatsche von der AfD einstecken muss und er seinen Görlitzer Wahlkreis an diese verliert. Inzwischen sieht es so aus, als käme die CDU trotz dramatischer Verluste mit einem blauen Auge davon und würde Wahlsieger, was der seit 18 Monaten unermüdlich arbeitende Kretschmer als sein Verdienst verbuchen dürfte. Dann gälte, was sein Generalsekretär Alexander Dierks so formuliert: Die Kooperation mit der AfD, die Mitglieder der CDU »Volksverräter« nenne und deren Unterordnung fordere, sei ein »politischer Fall von Stockholm-Syndrom« - also eine Art Liaison von Entführten mit ihren Geiselnehmern.

Die letzten Umfragen zur Landtagswahl in Sachsen

Wenn aber die Reise nicht nach Stockholm geht - wohin dann? Um die möglichen, teils ungewöhnlichen politischen Konstellationen zu verdeutlichen, die im Freistaat denkbar sind, werden seit Monaten Kataloge mit Flaggen gewälzt. Nicht zurückgegriffen werden muss dabei wohl auf die von Belarus oder Bangladesch, die - mit unterschiedlichen Farbanteilen - rot und grün sind. R2G aber dürfte wie bei jeder der sechs Landtagswahlen seit 1990 die rechnerische Mehrheit verfehlen. Der Höhenflug der Grünen, die erstmals in Sachsen zweistellig abschneiden könnten, wird durch die auf einen neuen bundesweiten Negativrekord zusteuernde SPD und wohl auch leichte Verluste der LINKEN kompensiert. In Summe reicht das für 33, vielleicht 35 Prozent - aber nicht zum Regieren.

Als wahrscheinlichstes Szenario für die Nachfolge des jetzigen Bündnisses aus CDU und SPD gilt derzeit eine Kenia-Koalition, bei der die Grünen den beiden wahrscheinlichen Wahlverlierern zu einer Mehrheit verhelfen würden. Es wäre die zweite nach der im Nachbarland Sachsen-Anhalt - die aber alles andere als ein Vorbild ist. Seit 2016 liegen Grüne und CDU im Dauerclinch. Wiederholt stand das Bündnis vor dem Bruch. Er blieb nur aus, weil sich die Koalition als »Bollwerk« gegen die AfD sieht, die ein Viertel der Abgeordneten stellt. In Sachsen dürften die Aversionen zwischen den Grünen und der als erzkonservativ geltenden CDU noch größer sein; Konflikte gibt es bei Themen wie Kohle, innerer Sicherheit oder Abschiebungen. 2014 scheiterten Sondierungen beider Parteien. Auch jetzt war auffällig, dass Kretschmer immer wieder verbal gegen den möglichen Koalitionspartner schoss. Die Frage lautet: Wenn er Bündnisse mit AfD und LINKE ausschließt, zugleich aber die Grünen vergrätzt - mit wem will er im Zweifel regieren?

So hat Sachsen seit 1990 gewählt

Schwierig wird es, wenn es FDP und womöglich auch Freie Wähler in den Landtag schaffen. Für ein Dreierbündnis mit der CDU würde es nicht reichen, zugleich aber wäre Kenia wohl passé. Eine Koalition unter Einschluss der FDP - in Anlehnung an die Flagge des pazifischen Inselstaats Vanuatu-Koalition genannt - gilt als kaum vorstellbar. Vier Parteien unter einen Hut zu bringen, gliche ohnehin der Zähmung des sprichwörtlichen Sacks Flöhe; darüber hinaus sind sich Grüne und die FDP in inniger Abneigung verbunden. Deren Spitzenkandidat Holger Zastrow wettert gegen »grüne Populisten« und redet den Klimawandel klein - miese Voraussetzungen für fünf Regierungsjahre.

Bliebe die Variante Minderheitsregierung, die nicht nur rechtskonservative CDU-Kreise empfehlen, sondern zuletzt auch Thüringens Staatskanzleichef Benjamin Hoff (LINKE). In Sachsen fürchtet man, dass eine solche, formal auf wechselnde Mehrheiten setzende Regierung, etwa unter dem bisherigen Landtagspräsidenten Matthias Rößler, faktisch Schwarz-Blau durch die Hintertür etablieren würde. Generell prophezeien Beobachter einer Minderheitsregierung keine lange Halbwertzeit. Und dann? Gäbe es Neuwahlen.

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