Höhere Wesen befehlen: Mehr Xenakis!

Ein toller, aufregender Abend beim Berliner Musikfest mit den Philharmonikern und Peter Eötvös

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Musikfest Berlin bietet eine Mischung aus Werken renommierter Komponisten und solcher der klassischen und zeitgenössischen Moderne. Dem künstlerischen Leiter, Winrich Hopp, ist es dabei besonders auch um die Musik des späten 20. sowie des 21. Jahrhunderts zu tun. Das diesjährige Musikfest geht noch bis Sonntag. Ausgehend von Hector Berlioz entwirft es eine Reise in Schlaglichtern durch die Musik der französischen und europäischen Moderne. Durch diese Auswahl selten gespielter Werke bekannter Komponisten und Werke selten gespielter Komponisten ist das Musikfest eines der spannendsten und interessantesten großen europäischen Musikfestivals. Es bleibt zu hoffen, dass es den eingeschlagenen Weg unbeirrt fortsetzt, auch wenn der Mut vom Publikum nicht immer mit vollen Sälen honoriert wird.

Am Wochenende spielten die Berliner Philharmoniker unter Peter Eötvös eine Palette neuester und neuer Musik sowie eine fast hundert Jahre alte Komposition, die immer noch sehr modern wirkt. Zunächst erlebte das Publikum die deutsche Erstaufführung des Dritten Violinkonzerts von Peter Eötvös mit Isabelle Faust. Das Stück trägt den Titel »Alhambra« und beschäftigt sich mit »der Überschneidung von spanischer und arabischer Kultur«, wie sie sich laut Eötvös in dem Gebäude zeigt. Wobei auch diese Formulierung vermutlich schon in die Irre führt, denn Spanien wurde ja mehrere Jahrhunderte lang von Mauren regiert, es existierten ein Emirat, mehr als hundert Jahre ein Kalifat und Königreiche verschiedener Berber-Dynastien. All dies hatte wesentlichen Einfluss auf die spanische Kultur. Das »Abendland« war eben immer auch ein Bastard, und die maurischen Einflüsse in Musik oder Architektur Spaniens sind nicht wegzudenken. Dies zeigt sich besonders an der Stadtburg (»kasbah«) Alhambra in Granada - ein Höhepunkt des maurischen Stils der islamischen Baukunst.

Das Violinkonzert von Eötvös beginnt mit einem lyrischen Solo der Violine, das den Ton g (für Granada) umspielt und aus dem sich die Vielfalt aller weiteren Motive entwickelt und zu dem das Werk als seinem Gravitationszentrum immer wieder zurückkehrt: eine Art klingender Spaziergang durch die Alhambra, jedoch auch mit ungarischen Rhythmen, es ist ja ein ungarischer Kosmopolit, der das Bauwerk durchschreitet - eine Reflexion über das Fremde also. Die Geige bleibt dabei immer tonangebend, ohne sich eitel in den Mittelpunkt zu stellen - ganz im Stil der Violinkonzerte von Schönberg, Bartok oder Ligeti (und letztlich auch Beethoven) ist die Solovioline hier nicht mehr eine virtuos konzertierende Solistin mit Begleitung eines Orchesters, vielmehr wird gemeinsam und vielstimmig Musik gemacht - mit der Violine als Impuls-, Ideen- und Taktgeberin, bei Eötvös ergänzt von einer begleitenden, ungestimmten Mandoline. Die unterstreicht einerseits das spanische Flair, um dann andererseits immer wieder zu irritieren - sie ist eine Art Sancho Panza zur solierenden Don-Quijote-Violine. Deren Solopart ist irrsinnig virtuos, und es ist atemberaubend, mit welcher Selbstverständlichkeit Isabelle Faust auch allergrößte Schwierigkeiten und all die höchsten Töne bewältigt und ihre Virtuosität doch jederzeit in den Dienst der Musik stellt. Da ist kein Protzen und kein eitles Zurschaustellen des Könnens, Isabelle Faust macht deutlich, dass sie nicht nur zu den größten Geigerinnen unserer Zeit zählt, sondern auch eine bedeutende Musikerin ist.

Zu einem weiteren Höhepunkt des Konzerts wurde die Aufführung der Komposition »Shaar« für Streichorchester des griechischen Komponisten Iannis Xenakis (1922-2001). Xenakis war Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Wehrmacht (was das Programmheft beredt verschweigt) und erlitt als Partisan im anschließenden Bürgerkrieg eine schwere Gesichtsverletzung, geriet in Gefangenschaft, wurde zum Tode verurteilt, konnte allerdings fliehen und ging 1947 als politischer Flüchtling nach Frankreich. Olivier Messiaen (auch er Komponist dieses Musikfests, siehe »nd« vom 4.9.19) schrieb über Xenakis, er sei »sicher einer der außergewöhnlichsten Männer, die ich kenne«, und empfahl ihm, auf eine klassische Musikausbildung zu verzichten, denn »der Mann, den ich vor mir hatte, war ein Held, einer, dem kein anderer ähnelte«. Xenakis komponierte »Shaar« 1982 für das israelische Testimonium-Festival. Es geht um einen Kampf zwischen Gut und Böse: In einer kabbalistischen Legende versucht der Held im Kampf gegen Satan die Macht des Bösen zu brechen; er besteht eine Reihe harter Prüfungen, doch am Ende fällt er auf eine List des Teufels herein und entgeht der ewigen Verdammnis nur, weil sich plötzlich ein geheimes Tor öffnet, eben das »Shaar«, das ihm den Weg in eine andere Welt weist.

Diese Kämpfe lässt Xenakis, der ausdrücklich »sehr viel mehr Teufel« für seine Musik verlangte, in heulenden Glissandi entstehen, die durch alle Instrumentengruppen des großen Streichorchesters jagen, die häufig gegeneinanderlaufen, zu wahnwitzigen Klangballungen zusammengeführt werden und wieder auseinanderstieben. Es ist mächtig was los auf dem Podium, das Orchester wird zu der von Berlioz gewünschten Maschine, die unendliche Klangfarben elektronischer Musikapparate beherrscht - aber die faszinierende Wildheit dieser Musik ist eben komponiert und von ungeheurer Suggestionskraft (und dabei ausgeklügelt durchstrukturiert, Xenakis war auch Architekt und arbeitete mit Le Corbusier zusammen). »Die Musik ist für mich Philosophie«, sagt er, »sie ist die klangliche Projektion des turbulenten und schwindelnden modernen Denkens. Das, was ich zu machen versuche, ist, die Harmonien und die Dissonanzen des modernen Lebens in einer wahrnehmbaren Form zu organisieren.« Mit »Shaar« hat Xenakis eine furiose Komposition erschaffen, die auch jedes Pop- oder Noise-Publikum beeindrucken würde. Höhere Wesen befehlen: Mehr Xenakis aufführen und hören!

Diese Forderung gilt zweifelsohne auch für die Werke von Edgar Varèse, dessen »Amériques« von 1922 zum Schluss erklang. Die »New York Times« bezeichnete das 1926 uraufgeführte Stück, eines der wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts, als »durch und durch falsch« und erklärte es zum »Skandalstück«, was sich das Publikum nicht zweimal sagen ließ und bei der New Yorker Erstaufführung zischte, gestikulierte, pfiff und brüllte, was das Zeug hielt. Varèse, für Frank Zappa »das Idol meiner Jugend«, war dem Bürgertum nicht nur als Komponist, sondern auch als Klassengegner verhasst. Varèse kannte Lenin und Trotzki; er war Dirigent kommunistischer Arbeiterchöre, und während des Spanischen Bürgerkriegs sammelte er Geld für die Verteidiger der Republik, die gegen die mit Nazideutschland verbündeten Franquisten kämpften.

»Amériques« hat Varèse, der nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs Europa verlassen hatte, in New York komponiert. Wir hören seine ersten Eindrücke in Manhattan: »Zunächst hörte ich einen Klang, der mich an meine Träume als kleiner Junge erinnerte: ein hohes pfeifendes Cis.« Varèse verarbeitet die »einsamen Nebelhörner, die schrillen, energischen Pfeifen, die ganze wunderbare Fluss-Symphonie«, die in seinem Westside-Apartment auf ihn einstürzt. Aber er setzt sich auch mit »Amerika« auseinander, diesem Begriff, der ihm damals ein Synonym für »Abenteuer«, für »alle Entdeckungen«, für das »Unbekannte« schlechthin war. »Neue Welten auf unserem Planeten, weit entfernte Räume« - und diese neuen Welten bekommen wir zu hören: die Alltags-Sounds ebenso wie Jazz-Anklänge, Triller und Glissandi, euphorisch rumpelnde Bläser, Sirenen. Ein riesiger Schlagzeugapparat und ein großes Streichorchester erzeugen ein haltloses Rauschen und Wogen, und wir erleben die »Euphorie des Entdeckens«, von der Varèse spricht: »You know, I came from Europe, and you know, shit on Europe, Amériques. You think of freedom: you think of expanding.« Neue Töne aus einer neuen Welt, eine sich frei im Raum bewegende, ungehörte und grandiose Musik, die mit ihrer wilden und rauschhaften Schönheit nur so um sich wirft.

Dass diese Musik sich immer wieder just auf Europa bezieht, beweist: Das Leben ist voller Widersprüche. Nicht zuletzt ist Varèses »Amériques« eine Musik, die sich »nicht den ästhetischen, technischen und gesellschaftlichen Normen fügt« (Konrad Boehmer). Eine Art »populäre« Avantgarde (durchaus auch im Sinn von »Pop«). Diese Musik beunruhigt immer noch und immer wieder.

Toller, aufregender Abend, ein dreiteiliges Plädoyer für Diversität und Durchmischung. Was sind die Berliner Philharmoniker doch für ein fabelhaftes Orchester (und was für ein toller Dirigent Peter Eötvös)! Man wünschte, sie würden ihr Können häufiger auch den großen Werken der Moderne zugutekommen lassen. Spielt »Shaar« oder »Amériques« doch auch mal als Open Air, beim Atonal-Festival und vor jungem, nicht »Klassik«-affinen Publikum! Oder wollen wir ganz vermessen sein und dem Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen empfehlen, derartige Aufführungen zu bester Sendezeit zu zeigen? Nur Mut!

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