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»Antisemitismus muss in jeder Form benannt werden«

Remko Leemhuis, Direktor des AJC Berlin, über Konsequenzen des Anschlags in Halle

  • Sebastian Weiermann
  • Lesedauer: 4 Min.

War ein Anschlag wie der auf die Synagoge in Halle abzusehen?

Einerseits sind wir schockiert, andererseits sind wir es auch nicht. Angesichts des gesellschaftlichen Klimas war es wohl nur eine Frage der Zeit bis so etwas passiert. Wenn wir uns die Entwicklungen der letzten Monate anschauen - im Prinzip reicht sogar nur die letzte Woche, in der eine Jüdin in Bayern mit Steinen beworfen wurde und ein mit einem Messer bewaffneter Mann in die Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin eindringen wollte -: Das sind Hinweise gewesen, dass so was passieren musste. Ebenso beobachten wir seit Jahren einen steten Anstieg antisemitischer Straftaten und eine deutliche Zunahme der physischen Angriffe.

Im Interview

Das American Jewish Comitee (AJC) ist eine über 100 Jahre alte Nichtregierungsorganisation, die sich gegen Antisemitismus und für die Stärkung der Demokratie einsetzt. Seit über 20 Jahren gibt es mit dem AJC Berlin Ramer Institute einen deutschen Ableger der amerikanischen Organisation. Das AJC unterstützt und entwickelt regelmäßig pädagogische Projekte und Initiativen gegen Antisemitismus. Dr. Remko Leemhuis ist seit September Acting Director des Instituts. Die inhaltlichen Schwerpunkte seiner Arbeit sind der gegenwärtige Antisemitismus, Islamismus und sicherheitspolitische Fragen. Über den neonazistischen Anschlag in Halle sprach mit ihm für »nd.dieWoche« Sebastian Weiermann.

Foto: AJC Berlin

Es gibt unterschiedlichste Formen des Antisemitismus. Weiß man als Jude in Deutschland noch, wohin man schauen muss?

Eine Tat wie in Halle passiert nicht aus dem Nichts heraus, sondern spiegelt das gesellschaftliche Klima wider. Der rechte Antisemitismus wird von Rechtspopulisten in den Parlamenten befeuert, die den Nationalsozialismus und seine Verbrechen herunterspielen. Wir haben offensichtlich ebenso ein massives Problem mit islamistischem Antisemitismus oder auch linkem Antisemitismus zum Beispiel in Form der BDS-Kampagne. Aber es gibt auch einen Antisemitismus der Mitte. Vor wenigen Monaten hat eine große Zeitung einem kleinen jüdischen Verein unterstellt, die deutsche Nahost-Politik zu steuern. Dass so etwas problemlos abgedruckt wurde und kein Redakteur mal auf Idee kommt, diese vollkommen abwegigen Vorstellungen zu hinterfragen, und keinem auffällt, dass diese Vorstellungen klassisch antisemitische Ressentiments bedienen - das ist nicht nur skandalös, sondern besorgniserregend und zeigt, dass der Antisemitismus, der als Israelkritik daherkommt, in der Mitte der Gesellschaft anschlussfähig ist. All das ergibt einen toxischen Mix, der momentan aus allen Richtungen auf uns einstürzt.

Wie steht es um die Sicherheit von jüdischen Einrichtungen in Deutschland?

Da muss man unterscheiden zwischen Großstädten und kleineren Orten. Ich glaube, in Metropolen ist die Sicherung okay. Allerdings mahnen wir auch immer wieder an, dass die Sicherheitsbehörden die Konzepte überarbeiten und an Gefahrenlagen anpassen. Wie wir jetzt in Halle gesehen haben, ist das dringend nötig. Es ist absolut unverständlich, dass an Jom Kippur, wenn viele Leute in die Synagoge gehen, dass es zumindest an diesem Tag keine permanente Polizeipräsenz vor der Synagoge gibt. Genauso unverständlich ist, dass es so lange gedauert hat, bis die Polizei vor Ort war. Offensichtlich gibt es ein Problem mit der Sicherheit außerhalb von Großstädten. Hier sind die Bundesländer gefragt, die dafür sorgen müssen, dass auch kleine jüdische Gemeinden adäquat geschützt sind, und zwar nicht nur an Feiertagen.

Die CDU-Vorsitzende spricht von einem »Alarmsignal«, die AfD präsentiert sich als Vorkämpfer gegen den Antisemitismus. Wirkt das stimmig?

Ich weiß nicht, ob Alarmsignal die richtige Wortwahl war. In Halle sind Menschen ermordet worden. In Deutschland haben wir schon viele Alarmsignale hinter uns gelassen. Dass die AfD sich als Kämpfer gegen Antisemitismus präsentiert, ist ihrer Strategie geschuldet, sich als Beschützer der jüdischen Community aufzuspielen. Das kann man selbstverständlich nicht ernst nehmen. Eine Partei, die Leute wie Björn Höcke, Andreas Kalbitz und unzählige Antisemiten, Holocaustleugner und Rassisten in ihren Reihen duldet, ist da einfach nicht glaubhaft. Worüber ich mich gefreut habe, ist, dass die Bundeskanzlerin am Mittwoch an der Synagoge in der Oranienburger Straße aufgetaucht ist und ihre Solidarität gezeigt hat. Auch die Solidarität vieler Bundespolitiker war ein gutes Zeichen. Die Frage ist nur, was folgt daraus?

Was sollte daraus folgen?

In allererster Linie Sicherheit. Gerade jetzt! So was passiert oft in Wellen, und ich könnte mir vorstellen, dass sich Menschen von der Tat in Halle animiert fühlen, Ähnliches nachzuahmen. Deswegen ist es wichtig, dass die jüdische Gemeinschaft in der ganzen Republik jetzt geschützt wird. Und zwar jede Gemeinde und jede einzelne Institution. Grundsätzlich geht es darum, den Worten gegen Antisemitismus Taten folgen zu lassen. Es ist zum Beispiel irritierend zu sehen, dass gerade im Bundesfamilienministerium Projekten zur Antisemitismusprävention die Mittel massiv gekürzt werden und wichtigen Projekten die finanzielle Grundlage entzogen wird. Das ist gerade nicht das richtige Signal. Ein anderer Punkt ist, dass jede Form von Antisemitismus als solche benannt werden sollte. Es sollte Schluss sein damit, dass sich jeder das rauspickt, was gerade in seine eigene politische Agenda passt. Jede Form muss gleich entschlossen bekämpft werden.

Nach Anschlägen in Frankreich haben dort viele in der jüdischen Community über das Auswandern nach Israel debattiert. Steht das in Deutschland auch an?

Das ist eine schwierig zu beantwortende Frage. Wahrscheinlich ist es einen Tag nach dem Anschlag noch zu früh, um Antworten zu geben. Das ist eine sehr individuelle Entscheidung. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass einige Menschen intensiver darüber nachdenken. Selbstverständlich hat der Anschlag eine große Verunsicherung ausgelöst und die Frage aufgeworfen, wie sicher man als Jude in Deutschland ist.

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