Vor den Baseballschlägerjahren

In den 80er Jahren kamen DDR-Vertragsarbeiter unter rätselhaften Umständen zu Tode. Nun fordern Initiativen Aufklärung.

  • Sebastian Bähr und Fabian Hillebrand
  • Lesedauer: 8 Min.

Das ist die Strecke, auf der Delfin Guerra und Raul Garcia Paret zu Tode gehetzt wurden. Über diese Brücke sind sie geschmissen worden.« Sichtlich bewegt spricht Andreas Bulmeyer durch ein Megafon. Die »Initiative 12. August« erinnert an den Tod von Delfin Guerra und Raul Garcia Paret. 200 Menschen gehen in Merseburg am Flussufer entlang. Vor 40 Jahren sollen auf diesem Weg die beiden kubanischen Vertragsarbeiter von Deutschen verfolgt und mit Flaschen und Steinen beworfen worden sein, bevor sie unter der Saalebrücke den Tod fanden. »Verurteilt wurde für diesen Mord bisher niemand«, sagt Bulmeyer. Er fordert Aufklärung. Nicht nur dieser Fälle.

»Das werde ich nie vergessen, das Gefühl. Wir sind am Flughafen Schönefeld gelandet. Und als es die Rolltreppe runterging, habe ich gedacht: Wow, du hast es geschafft. Du bist in ein Paradies gekommen.« Mai-Phoung Kollath kam 1981 als vietnamesische Vertragsarbeiterin nach Rostock. Wie Zehntausende andere, meist junge Menschen. Oft waren ihre Herkunftsländer mit der DDR befreundete sozialistische Staaten - Vietnam, Mosambik oder Kuba. Kollath wohnte jahrelang im Rostocker Sonnenblumenhaus. Kurz nach ihrem Auszug, im Jahr 1992, belagerten Neonazis das Gebäude und setzten es in Brand.

Baseballschlägerjahre nennt der Journalist Christian Bangel diese Zeit in den 1990ern, als sich rechte Gewalt in Ostdeutschland, aber nicht nur dort, Bahn brach. Hundertfach teilen die Menschen in den sozialen Medien ihre Geschichten. Doch es gibt eine Zeit vor den Baseballschlägerjahren: im Westen wie im Osten.

In der Webdoku »Eigensinn im Bruderland«, in der Kollath ihre Geschichte teilt, kommt ein Thema immer wieder zur Sprache: In der antifaschistischen DDR sollte es keinen Rassismus geben. Wenn es doch welchen gab, wurde er von der Staatssicherheit und der Generalstaatsanwaltschaft vertuscht. Sogar Mordverfahren wurden eher eingestellt, als dass man öffentlich über marodierende Nazibanden gesprochen hätte.

In vier Fällen könnten die Täter noch verurteilt werden

Ein MDR-Team hat sich über Jahre mit rassistisch motivierten Morden in der DDR beschäftigt. Nach diesen Recherchen gibt es mindestens vier Fälle, die bis heute nicht verjährt sein könnten: den der beiden Kubaner in Merseburg sowie die der Mosambikaner Manuel Diogo 1986 in Borne/Bad Belzig und Carlos Conceição 1987 in Staßfurt. In allen Fällen wurden die Ermittlungen von DDR-Politik und Staatssicherheit eingestellt oder stark beeinflusst, meinen die Journalisten.

Die Staatsanwaltschaft Halle hat nach Veröffentlichung der MDR-Berichte geprüft, ob man im Falle Merseburg erneut ermitteln könne. Schließlich wurde dem Sender mitgeteilt, man habe keine Veranlassung, wegen der beiden Fälle Personen »hinterherzulaufen, man müsste dann schließlich auch in Kuba ermitteln« und das sei etwas »uferlos«.

Die LINKE-Politikerin Henriette Quade ärgert das. Sie kritisiert, die Staatsanwartschaft habe nur die alten Akten der Staatssicherheit geprüft. »Dass sich aus diesen Akten keine Straftat ergibt, ist doch logisch.« Schließlich sei es doch genau darum gegangen, die rassistischen Morde zu vertuschen, sagt sie. Die Staatsanwaltschaft in Halle, die auch im Fall Oury Jalloh ermittelte, tue sich schwer damit, rechtsextreme Straftaten zu verfolgen, kritisiert Quade. Um den Ermittlungsdruck zu erhöhen, stellte die Abgeordnete kürzlich eine Strafanzeige, die »nd« vorliegt. Darin fordert sie die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die mutmaßlichen Mörder der beiden Kubaner. »Solange die Täter straffrei bleiben, wird sich am Problem des rechten Terrorismus nichts ändern«, sagt Quade und fügt hinzu: Dass die Mordfälle aus DDR-Zeiten restlos aufgeklärt werden, schulde man auch den Familien und Freunden der Toten.

Ibraimo Alberto kam als 18-Jähriger aus Mosambik in die DDR. Dort arbeitete er in einem Fleischkombinat, nach der Wende wurde er Ausländerbeauftragter im brandenburgischen Schwedt. Befreundet war Alberto mit Manuel Diogo, einem Mosambikaner, der in einem Sägewerk arbeitete. Im Juni 1986 verbrachten die beiden das Wochenende zusammen in Berlin, dann musste Diogo mit dem Zug zurückfahren. Die Zugführerin sah ihn später im Abteil mit geschlossenen Augen, vermeintlich schlafend, berichtet die Stasi in einem dem »nd« vorliegenden Bericht. An seinem Ziel kam der junge Vertragsarbeiter nie an. »Todesfall unter verdächtigen Umständen«, notiert der Geheimdienst. Nahe Borne wird Diogo leblos im Gleis aufgefunden. »Person vermutlich durch ein Eisenbahnfahrzeug überfahren«, heißt es lapidar. Und: »Hinweise auf Auseinandersetzungen mit anderen Personen liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vor.« Der Unfall eines Betrunkenen, so die Erzählung.

Schwer zu rekonstruieren: der Fall Diogo

Speziell im Fall Diogo ist die Rekonstruktion der Geschehnisse schwierig. Der Historiker Ulrich van der Heyden verteidigt öffentlich die DDR-Ermittler und deren Ergebnisse, etwa kürzlich in dieser Zeitung. Ibraimo Alberto und viele andere sind hingegen davon überzeugt, dass Diogo von Nazis umgebracht wurde. »Ich war damals Gruppenleiter und wurde zusammen mit anderen in die mosambikanische Botschaft geladen«, erzählt Alberto dem »nd«. »Dort sagte man uns, wir haben wieder einen Mosambikaner verloren. Er sei im Zug verprügelt und aus dem Zug geworfen worden.« Der Historiker Harry Waibel stimmt ihm zu. »Stasi und Volkspolizei haben nie untersucht, wie dieser leblose Mann aus dem fahrenden Zug gekommen war. Dieser Mord wurde dann offiziell als ›Unfall‹ getarnt.« Dass sich Neonazis im selben Zug befanden, wisse man aus Erzählungen von mitreisenden Kollegen, so Waibel. Das MDR-Team stützt seine Aussage.

Für die Mitgestalterin von »Eigensinn im Bruderland«, Julia Oelkers, ist der Fall bis heute nicht geklärt. »Der Obduktionsbericht nennt Schädelverletzungen und Verletzungen, die auf längeres Mitschleifen des Körpers hindeuten«, sagt die Journalistin, die »nd« Einblick in ihre Recherchen gegeben hat. »Der Bericht in den Stasi-Unterlagen spricht zudem nur von Vermutungen zum Hergang, es gibt keine Augenzeugenaussagen oder Beweise darüber, wie er aus dem Zug gefallen ist.«

Die schwierige Frage lautet: Wie verbreitet war Rassismus in der DDR? Darüber wird oftmals ideologisch diskutiert. In den Akten der Staatssicherheit - die natürlich keine neutralen Quellen sind - finden sich zahlreiche Hinweise. Die Stasi-Kreisdienststelle Staßfurt schreibt im Februar 1987: »Meinungsäußerungen wie unter anderem ›die schwarzen Affen‹ häufen sich und gehen bis zur Androhung von Selbstjustiz.« In einem Stasi-Jahresbericht vom September 1987 steht: »Vorkommnisse mit mosambikanischen Werktätigen belegen, dass diese Ausländergruppe zunehmend Provokationen von DDR-Bürgern ausgesetzt ist.« Es wird von »tätlichen Auseinandersetzungen« in Dresden, Zittau und Niesky berichtet.

Im September 1987 habe sich dann in Staßfurt ein Vorkommnis »besonderer Brutalität« ereignet: Nach einem Gaststättenbesuch sei es zu »tätlichen Auseinandersetzungen« zwischen »mosambikanischen und DDR-Jugendlichen« gekommen, in deren Folge »ein Mosambikaner von einem vorbestraften DDR-Bürger über ein Brückengeländer geworfen« wurde. »An den Folgen des fünf Meter tiefen Sturzes verstarb der 18-jährige Ausländer.« Sein Name war Carlos Conceição.

In der mosambikanischen Botschaft der DDR sorgte man sich aufgrund solcher Ereignisse. Im September 1986 wurde ein Treffen zwischen einem mosambikanischen Diplomaten (A.) und einem Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (K.) protokolliert. »Genosse A. berichtete, dass die Zahl der tödlichen Unfälle mosambikanischer Bürger zugenommen hat. Die Botschaft ist besorgt über die Entwicklung«, heißt es in dem Papier. Der mosambikanische Diplomat vermerkte weiterhin, dass »laut Berichten von Gruppenleitern mosambikanischer Bürger Provokationen von DDR-Bürgern ansteigen«. Dabei würden die Mosambikaner »beschimpft und oftmals tätlich angegriffen«. Der Ministeriumsmitarbeiter K. fügte laut Protokoll hinzu, dass »auch für die DDR-Organe unerklärlich ist, warum so viele tödliche Unfälle mit Bürgern der Volksrepublik Mosambik geschehen«.

Alberto kann sich selbst auch an Rassismus erinnern: »Ich war Boxer. Wenn ich im Ring war, habe ich bei Kämpfen außerhalb Berlins oft aus dem Publikum gehört: Guck mal, ein Affe, du lässt dich von einem Affen schlagen.«

Geschichten in Puzzleteilen und Fragmenten

Sich einen Gesamtüberblick über rassistische Gewalt in der DDR zu verschaffen, ist schwierig. Harry Waibel hatte jahrzehntelang in Stasi-Akten geforscht. Gegenüber »nd« spricht er von 700 rassistischen Propaganda- und Gewalttaten, die sich vorwiegend gegen ausländische Arbeiter, Studenten, Wissenschaftler und Diplomaten richteten. Die Angriffe fanden seinen Untersuchungen zufolge in über 400 Städten und Gemeinden statt. 200 »Pogrome beziehungsweise pogromartige Angriffe« auf Ausländer hätten sich zugetragen, dazu 40 Attacken auf Wohnheime. Zehn Menschen sollen durch die rassistische Gewalt ums Leben gekommen sein. Doch warum konnte die DDR diese Gewalt nicht erfassen? »Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, so könnte man die ideologische Verklärung der Politik der Herrschenden in der DDR auf eine kurze Formel bringen«, sagt Waibel dem »nd«.

Der Forscher ist indes nicht unumstritten. Die Rezensentin Svenna Berger etwa lobte für das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum in Berlin sein Buch die »Braune Saat« zwar als eine »bisher einzigartige Sammlung von Quellen zu rechten Aktivitäten in der DDR«. Gleichzeitig kritisierte sie Waibel für »mangelnde Sachlichkeit«, fehlende Auseinandersetzungen mit Zeitzeugen und »ungenaue Vergleiche«. Enrico Heitzer von der Gedenkstätte Sachsenhausen wirft Waibels Arbeit »argumentative Inkonsistenz«, fehlende Quellenkritik sowie eine »ungenaue Kenntnis von Forschungsständen« vor. Dennoch sagt auch er, dass andere Forscher Waibels Recherchen als »Lexikon und thematischen Archivführer« nutzen können.

Julia Oelkers kennt die Herausforderungen der Quellenarbeit sehr gut. »Alle DDR-Behörden und Institutionen haben Akten angelegt, die wie ein Puzzle zu den einzelnen Fällen zusammengesucht werden müssen«, sagt die Filmemacherin. »Häufig sind nur Fragmente einer Geschichte zu finden.«

Um die Fragmente vollständig zusammensetzen zu können, braucht es den Willen zur Aufarbeitung. Andreas Bulmeyer und seine Mitstreiter von der »Initiative 12. August« setzen sich für eine Erinnerungstafel an der Saalebrücke ein. Bei der Demonstration in Merseburg zeigten sie, wie eine solche aussehen könnte. Wenn schon nicht ermittelt wird, dann soll die Zeit vor den Baseballschlägerjahren zumindest nicht vergessen werden.

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