Wunderbarer Botenstoff

Zum Tod des großen Tenors Peter Schreier.

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Wir können auf so viel verzichten. Aber nicht auf den Mangel. Der Mangel schafft Kathedralen und Kunst. Schafft Sprache und Musik, um der Sehnsucht Stimme zu geben. Musik dringt anders in uns ein als Sprache. Unmittelbarer, vernunftfreier. Sprache bleibt jenseits allen Ausdrucks doch: Mitteilung. Musik teilt nicht mit - mit Musik teilen wir eine Empfindungsvollkommenheit, die nirgends sonst möglich ist. Wenn Musik die große Freiheit außerhalb der Gedanken ist, dann war Peter Schreier gleichsam ein Freiheitsheld. Nicht Heldentenor, nein, mehr. Ein Bote des gelingenden Lebens, also der Fähigkeit, sich schön zu machen gegen alles. Musik, der wunderbare Botenstoff.

Unangestrengtheit noch im aufwühlend Tragischen hat diesen Sänger freilich nie zu wahrhafter Hochdramatik in der Oper geführt. Schreiers Feld war nicht der Zusammenprall, er blieb im schönsten Sinne weich, poetisch, hell, ohne jede Bemächtigungsgebärde. Geboren wurde er 1935 in Meißen, Sohn eines Lehrers und Kantors. Das Bombeninferno von Dresden beobachten Schreier und seine Mitschüler vom Schulturm aus: Ein paar Kilometer Luftlinie machten aus dem Krieg ein staunenswertes Spektakel - aber plötzlich dessen Gnadenlosigkeit: elf singende Kruzianer tot. Jener Dresdner Kreuzchor ist auch die erste Lebensschule im Frieden. Leiter Rudolf Mauersberger gab dem Chor diesen metallisch jungenhaften Toncharakter, und just dieser Kantor vertraute dem Jungen solistische Altpartien an; er förderte, aber überforderte auch. Singen und Leiden - bis an die Grenze zum Zusammenbruch.

Nach seinem Gesangsstudium gehörte Schreier jahrzehntelang dem Ensemble der Staatsoper in Berlin an. Er hat alle ihm stimmlich möglichen Mozart-Partien gegeben. Unvergleichliche Anverwandlung und eine Einfühlung geradezu besessenen Ausmaßes. Bejubelt von Salzburg bis New York, von Wien und Paris bis Tokio. Das Ehrenmitglied des Hauses Unter den Linden hat die Welt gesehen, weil die Welt diesen Triumphator hören wollte. An der Scala, an der Met. Diesen tenoralen Glanz, diese sinnscharfe Beweglichkeit, diesen Schmelz darstellerischer Klugheit und Gelöstheit. In späteren Jahren war er auch Chor- und Orchesterdirigent (Karajan zeigte sich beeindruckt, »lieh« ihm konzertweise seine Berliner Philharmoniker). Er habe stets, so Schreier, aus der Sicht des Sängers dirigiert, »nicht unterm Banne der Selbstgestaltung«. Bescheidenheit, Indienststellungcharme.

Dieser lyrische Tenor sang natürlich, dies entsprach, wie es der Musikwissenschaftler Jürgen Kesting formulierte, »einer Forderung der frühromantischen Ästhetik: Kunst als absichtslose Natur erscheinen zu lassen«. Ein Charakterzeichen von Schreiers Kunstliedern. Fürs klassische Lied braucht man ja als Hörer vielleicht eine gewisse Sammlung Lebenszeit, um es zu genießen. Weil es der beruhigenden Zeit bedarf, um dem Romantiker im eigenen Gemüt endlich ohne Arg gebührenden Raum zu lassen? Lied ist Kunst - in Hautnähe zur Künstlichkeit. Aber diese Abgehobenheit ist doch rebellische Tugend, ist ein stolzes Maß, ist eine edle Art wider die Welt. Schreier sang so, als ob besagte Abgehobenheit die kreatürlichste Äußerungsform sei. Leicht, ohne explizite Anrufung des Höheren, ohne implizite Beschwörung des Tempeltons. Als er den Mendelssohn-Bartholdy-Preis bekam, sagte Kurt Masur, Schreiers Interpretationen des Komponisten würden wohl »nie übertroffen werden«.

Er sang Beethoven, Schumann, den gesamten Schubert. Du hörst, und Lebensmut reckt sich, ohne die Todesangst zu verleugnen. Immer wieder Schuberts »Winterreise«. Dieses: »Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.« Als sei jede Note dieser Musik ein Sterbelicht, das aber den Weg durchs Leben erhellt. Es schneiden sich alle Pfade, und jeder führt in die Schutzlosigkeit. Als habe jede Hand, die sich darbietet, fünf Eiszapfenfinger - aber zugleich ist da Trotz, Freude; auch an den Rändern der Verzweiflung wächst grünes Gras. Was ist dieses Singen? Einer steigt auf der Tonleiter des Schmerzes herab, es ist aber auch die Treppe, die hinauf in den Glanz jener Wärme führt, die dem Leben abgerungen werden kann.

Stets wurde die Stimme des Sängers ob ihrer Alterslosigkeit gerühmt. Aber er hat sich dadurch nicht verführen lassen, den Zeitpunkt seines Bühnenabschieds auch nur um die entscheidende Sekunde zu spät zu setzen. Tenors Timing bis zur letzten Tonsetzung, mit 70 - Meisterlichkeit gilt auch fürs Loslassen. Von seinem Tamino an der Deutschen Staatsoper hatte es jahrelang geheißen, er singe nicht, er sei, und dies erhob die Rolle zum puren Gnadenfall des Erlebnisses Kunst. Nicht zufällig gab Schreier just mit dieser Zentralgestalt aus Mozarts »Zauberflöte« seinen Bühnenabschied.

Er liebte Jazz, verehrte Britten, Hindemith, mochte Fußball. Einmal sollte er zu Sachsens Ministerpräsident Biedenkopfs Geburtstag singen. Er lehnte ab. »Er hätte ja in meine Konzerte kommen können.« Ob er an Gott glaube? Der bekennende Christ bejahte. »Ja, an Bach.« Bach ist Christentum! Bach ist Antwort auf eine Not. Wer angesichts Bachs sagt, es gebe Gott nicht, sagt einen ärmlichen Satz. Schreiers Gesang ist dagegen Reichtum: Er erzählt so beglückend selbstverständlich vom Gleichgewicht zwischen Religion und Emanzipation. Als könne da einer die Wunder Bachs (Schreier sang oft dessen Evangelisten der »Matthäus-Passion«) in alle kommenden Zeiten hinein verlängern. Als könne der Mensch zwar nicht besser werden, aber wenigstens ein Lied davon singen.

Gern und heiter erzählte Schreier, er habe als Baby auf dem Flügel gelegen. Und die Tasten schlugen an. Klopfte aus dem Innern des Instruments ein inspirierender Rhythmus - zum Herzen hin? Ach was, der musizierende Vater benötigte einfach eine kurzzeitige Ablage für das kleine Lebensbündel. Jener so oft beschworenen Korrespondenz von Motiv und Wirkung ist also auch in diesem Falle zu misstrauen. Nun ist der große Tenor, gleichsam im Nachhall des geliebten »Weihnachtsoratoriums«, im Alter von 84 Jahren gestorben.

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