Ein jeder trage sein eigenes Paket

Das neue Sozialdrama von Ken Loach zeigt die Folgen, die prekäre Beschäftigungsverhältnisse für eine Familie haben. Von Jörn Schulz

  • Jörn Schulz
  • Lesedauer: 4 Min.

Prekäre Beschäftigungsverhältnisse fügen Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu. Fangen Sie gar nicht erst damit an.» Ein solcher Warnhinweis, etwa auf jedem Wagen von Lieferdiensten, erscheint sinnvoll, wäre aber wohl schwer durchzusetzen. Sich gar nicht erst in prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu fügen, muss man sich zudem erst einmal leisten können.

Ricky (Kris Hitchen) kann das nicht. Er ist verschuldet und findet im Baugewerbe keinen Job mehr. Sich arbeitslos zu melden, verbiete ihm sein Stolz, sagt er im Bewerbungsgespräch wohl nicht nur, um seine Leistungsbereitschaft zu bekunden. Er glaubt daran, sich hocharbeiten zu können, und lässt sich darauf ein, nicht angestellt zu werden, sondern «an Bord zu kommen», wie Maloney (Ross Brewster), der Vertreter der Firma und Supervisor der Auslieferer, es ausdrückt. Die Firma gibt Ricky die Pakete und kontrolliert die Auslieferung.

Alle Risiken, ob Staus, renitente Paketempfänger, Krankheiten oder dringende Familienangelegenheiten, gehen auf seine Kosten. Um den Lieferwagen kaufen zu können, den er nun braucht, überredet er seine Frau Abby (Debbie Honeywood), die unter ähnlich erbärmlichen Bedingungen wie er für einen ambulanten Pflegedienst arbeitet, ihr Auto zu verkaufen. Abbys Arbeitszeit verlängert sich, weil sie nun auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, während Ricky bis zum Umfallen Pakete ausliefern muss. Für die beiden Kinder bleibt immer weniger Zeit.

Mit 83 Jahren und nach mehr als einem halben Jahrhundert Arbeit in der Filmbranche ist der britische Regisseur Ken Loach selbst nach den Vorstellungen von Unternehmerverbänden im Rentenalter. Doch offenbar lassen ihm die sozialen Verhältnisse keine Ruhe, so dass er nach seinem Film «I, Daniel Blake» (2016), der den Kampf eines kranken Arbeitslosen gegen das gnadenlose britische Verwaltungssystem schildert, mit seinem langjährigen Drehbuchautor Paul Laverty noch einmal an die Arbeit ging.

Die Figuren in Loachs sozialrealistischen Dramen hatten es nie leicht. Oft schilderten seine Filme Bemühungen um gewerkschaftliche Organisierung oder andere Formen des Widerstands, die erfolglos bleiben oder tragisch enden konnten, aber immerhin Versuche waren, sich zu wehren. Loachs neuer Film, «Sorry We Missed You», zeigt den Arbeitsalltag Abbys und Rickys - allein in dessen Abenteuern bei der Paketauslieferung scheint hin und wieder etwas skurriler Humor auf -, ist aber vor allem ein Familiendrama.

Die weitgehend sich selbst überlassenen Kinder Liza Jane (Katie Proctor) und Seb (Rhys Stone) leiden unter der angespannten familiären Situation. Der pubertierende Seb rebelliert und wird beim Ladendiebstahl erwischt - ein Riesenproblem für Ricky, nicht zuletzt weil eine kostspielige Kompensation für die Firma fällig wird, damit er seinen Sohn bei der Polizei abholen kann. Die familiären Konflikte eskalieren, alle müssen daran arbeiten, sich zu ändern und wieder zusammenzufinden.

Loach und Laverty gelingt es, dies mit überzeugenden Darstellern ohne Kitsch und Rührseligkeit in Szene zu setzen. Sich nicht von den ökonomischen Zwängen brechen lassen zu wollen und sich Menschlichkeit zu bewahren, ist allerdings die einzige Form der Gegenwehr, die Abby auch praktiziert, indem sie sich - auf Kosten ihrer ohnehin spärlichen Freizeit - weigert, Pflegebedürftige zu vernachlässigen, wie es der vorgesehene Zeittakt unvermeidlich machen würde.

In Rickys Firma ist es schon der Höhepunkt der Solidarität, wenn ein Fahrer ihm den Tipp gibt, eine leere Flasche mitzunehmen, da Pinkelpausen im geforderten Liefertakt nicht vorgesehen sind. Auch Ricky verhält sich nicht gerade solidarisch, als er nach kurzem Zögern die Tour eines soeben gefeuerten Fahrers übernimmt. Der Gedanke an organisierte Gegenwehr kommt unter den vereinzelten und miteinander um die lukrativsten Touren konkurrierenden Fahrern gar nicht erst auf, aber auch Abby arbeitet immer allein.

Auch der Sozialrealismus hat schon erfreulichere Zeiten gesehen. Etwa ein Fünftel der britischen Erwerbstätigen arbeitet in prekären Beschäftigungsverhältnissen, dies hat zweifellos zur Entsolidarisierung unter den Lohnabhängigen und in der Gesellschaft beigetragen. Mit dem Brexit ist eine weitere Welle der Deregulierung zu erwarten. Loach wird sich also voraussichtlich wohl weiterhin nicht zur Ruhe setzen können.

«Sorry We Missed You», Großbritannien, Frankreich, Belgien 2018. Regie: Ken Loach; Drehbuch: Paul Laverty; Darsteller: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor, Ross Brewster. 100 Min.

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