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Nicht mehr nur Cents

Die Niederlande sind bekannt für niedrige Tarifabschlüsse, jetzt kämpft eine große Gewerkschaft für einen Kulturbruch und vier Euro mehr Mindestlohn – Gewerkschaftssekretärin Linda Vermeulen im Gespräch

In den Niederlanden liegt der Mindestlohn je nach Wochenarbeitszeit zwischen 9,54 und 10,60 Euro. Ihre Gewerkschaft fordert nun 14 Euro. 38 Prozent mehr - in Deutschland würde man Sie für verrückt erklären.

In Holland sind viele Menschen dafür. Eine Meinungsumfrage zeigt: Sieben von zehn Befragten befürworten eine Erhöhung des Mindestlohns auf 14 Euro. Die Zustimmung reicht weit über die Linke hinaus. Auch eine klare Mehrheit der Anhänger der Regierungsparteien ist dafür. Sie wissen: Von zehn Euro kann man in den Niederlanden kaum leben. Man ist entweder auf das Einkommen des Partners angewiesen oder auf staatliche Leistungen.

Linda Vermeulen

Linda Vermeulen ist Tarifsekretärin der Gewerkschaft FNV im Einzelhandel. Die FNV ist mit einer Million Mitglieder die größte Gewerkschaft der Niederlanden. Sie vertritt Arbeitnehmer aus unterschiedlichsten Berufsgruppen. Mit Vermeulen sprach Ines Wallrodt. Foto: privat

Wie viele Menschen verdienen in den Niederlanden nur den Mindestlohn?

Aktuell erhalten etwa eine halbe Millionen Beschäftigte in den Niederlanden lediglich den gesetzlichen Mindestlohn - das sind sechs Prozent. Etwa die Hälfte sind junge Beschäftigte unter 25 Jahren.

Zum Teil ist das Problem also zeitlich begrenzt?

Nein, das kann man so nicht sagen. Denn zugleich haben auch Arbeitsplätze, die knapp über dem Mindestlohn liegen, stark zugenommen. Zählt man zu den 500 000 Mindestlohnempfängern noch die Beschäftigten hinzu, die kaum mehr verdienen, sind es zwei Millionen Niedriglohnbeschäftigte. Touristen denken bei Holland an Tulpen und Käse - Firmen an Niedriglöhne, flexibilisierte Arbeitsbedingungen und staatliche Subventionen.

Auch Deutschland, Ihr Nachbar, hat einen Niedriglohnsektor gefördert. Was bedeutet diese Situation für Sie?

Es ist wichtig, dass in beiden Ländern der Mindestlohn angehoben wird. Zum einen für die Beschäftigten. Aber auch, damit der Arbeitsmarkt in den Niederlanden und Deutschland, und vor allem im Grenzgebiet, nicht gestört wird. Wenn sich die Löhne allzu sehr unterscheiden, könnte dies ein Anreiz für Firmen sein, die Arbeit dahin zu verlagern, wo die Löhne am niedrigsten sind. Das ist nicht wünschenswert.

In Deutschland dreht sich die Debatte um 12 Euro. Wie kommen Sie auf 14 Euro?

14 Euro wären ungefähr 60 Prozent des Medianeinkommens, was der EU-Sozialkommissar empfiehlt. Davon könnte man ohne Sozialleistungen leben. 2017 bezog mehr als die Hälfte aller niederländischen Haushalte eine oder mehrere staatliche Leistungen. In den Niederlanden gibt es bereits seit 50 Jahren einen gesetzlichen Mindestlohn. Als er eingeführt wurde, betrug er 69 Prozent des Durchschnittslohns von Vollzeitbeschäftigten. 2018 waren es laut OECD nur noch 39 Prozent.

Wie kam das?

Das hat mehrere Gründe. Die Tariflöhne haben sich weniger stark entwickelt als die Durchschnittslöhne. Außerdem hat der Staat in den letzten Jahrzehnten den Mindestlohn mehrere Male weniger stark angehoben oder ganz eingefroren. Normalerweise wird der Mindestlohn in den Niederlanden zweimal jährlich entsprechend der Entwicklung der Tariflöhne angepasst. Allerdings hat die Regierung die Möglichkeit, von der Tariflohnorientierung abzuweichen, wenn sie dies aus ökonomischen Gründen für notwendig hält. Zwischen 1985 und 2005 wurde deshalb der Mindestlohn in insgesamt zehn Jahren nicht erhöht.

In Deutschland will man gerade weg vom reinen Nachvollzug der Tariflohnentwicklung und fordert eine stärkere Gesamtabwägung sozialer und wirtschaftlicher Bedingungen, mit dem Gedanken, dass dies zu einem größeren Sprung führen müsste. Das kann auch schiefgehen, wenn man die Niederlande sieht.

Das würde ich so nicht sagen. Es gibt einen großen Unterschied. Bei uns sind Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld, Altersversorgung und Erwerbsminderungsrenten an den Mindestlohn gekoppelt. Ein höherer Mindestlohn bedeutet deshalb nicht nur mehr Lohn für die betroffenen Beschäftigten, sondern auch mehr Geld für Sozialleistungsempfänger. Das war der Grund für den Staat, um Erhöhungen auszusetzen. Hinzu kommt, dass niederländische Gewerkschaften jahrzehntelang eine Kultur von Lohnzurückhaltung verfolgt haben - die Tariflohnzuwächse haben im Schnitt gerade einmal die Inflationsrate ausgeglichen. Und dann landet man eben auf dem heutigen niedrigen Wert beim Mindestlohn.

Warum sind Gewerkschaften so defensiv?

Es gibt im Allgemeinen diese Kultur: bei den Firmen, in der Politik, in der öffentlichen Debatte und eben auch bei Gewerkschaften. Sie waren oft kompromissbereit, statt Widerstand zu organisieren. Aber jetzt wollen wir eine Lohnwende durchsetzen. Es geht um eine echte Perspektive, die Lebensbedingungen zu verbessern.

Finden Sie es gar nicht schlimm, dass 14 Euro Mindestlohn Tarifverträge verdrängen könnten? In Deutschland lautet eine Kritik, staatlich festgesetzte Löhne würden die Tarifbindung schwächen.

Die grundsätzliche Frage ist unstrittig: Der Staat setzt einen Mindestlohn. Die 14 Euro brechen mit der herrschenden Kultur der Lohnzurückhaltung. Wir wollen, dass sich das gesamte Tarifgebäude mitbewegt. Die Kampagne beeinflusst daher auch das Tarifgeschehen. Im Einzelhandel zum Beispiel orientieren wir uns bei unseren Tarifforderungen nun ebenfalls an den 14 Euro. Das Problem ist, dass die anderen Gewerkschaften, es sind kleinere und christliche, oftmals niedrigere Tarifforderungen stellen als wir. Diese Konkurrenz schwächt uns.

Auf welchen Punkt läuft Ihre Kampagne zu?

Unsere Kampagne zielt auf die 2021 anstehenden Parlamentswahlen. Im Wahlkampf soll das Thema ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Das wollen wir durch eine neue Form von Gewerkschaftsarbeit erreichen. Unter dem Motto »Steh auf für 14!« setzen wir auf Kampagnen und mehr Beteiligung. Wir können unser Ziel nur erreichen, wenn die Menschen dafür aufstehen.

Und, stehen sie auf?

Die Bewegung wird immer größer. Beschäftigte entwickeln ein neues Selbstbewusstsein und hören auf, bei ihren Einkommen nur in Cents zu denken. In verschiedenen Städten haben sich Komitees gegründet, die die Forderung nach mehr Mindestlohn mit vielfältigen Aktionen unterstützen. In Amsterdam demonstriert eine Gruppe von Frauen mit rosa Westen; in Rotterdam soll eine Statue mit der Zahl »14« errichtet werden. Und am 14. Februar fand ein Marsch durch Amsterdam statt. Wir brauchen Druck auf die Politik.

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