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Ein Todesmarsch als Graphic Novel

Die Gedenkstätte Isenschnibbe in Sachsen-Anhalt erhält endlich ein Besucherzentrum.

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

Von den Todesmärschen zwischen Harz und Altmark gibt es keine Bilder. Fast zwei Wochen währte die Odyssee, auf die Tausende Häftlinge aus Außenlagern der Konzentrationslager Mittelbau-Dora und Neuengamme in den frühen Apriltagen des Jahres 1945 geschickt wurden. Manche hatten sich zu Fuß in Kolonnen durch das Bergland schleppen müssen, über Landstraßen, durch Dörfer. Andere waren in Güterwaggons gepfercht und auf verworrenen Routen transportiert worden. Die Züge standen vermutlich teils lange an Bahnhöfen. Viele Häftlinge strandeten schließlich in einer Kaserne in Gardelegen nördlich von Magdeburg. Dass unterwegs keiner der Wachleute oder der Menschen entlang der Route fotografierte, mutet seltsam an. Das Leben im NS-Staat ist umfangreich in Bildern dokumentiert: der Alltag eines Landes im totalen Krieg; politische Manifestationen der Diktatur wie Aufmärsche und Bücherverbrennungen; die tödliche Maschinerie der Lager, selbst Verbrechen an und hinter der Front. Von den Todesmärschen aber gebe es keine Fotografien, sagt Andreas Froese, der Leiter der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe.

Das ist ein Problem, wenn es darum geht, eine Ausstellung über die Todesmärsche und einen ihrer grausamen Endpunkte zu gestalten: ein Massaker, das ab dem Abend des 13. April 1945 in der Feldscheune nordöstlich von Gardelegen stattfand. Mehr als 1000 KZ-Häftlinge wurden in das Gebäude gepfercht, dann wurde es in Brand gesteckt. Nur wenigen gelang die Flucht. Sie wurden in umliegenden Orten und Wäldern von SS-Leuten, Angehörigen der Wehrmacht und des Volkssturms sowie der örtlichen Bevölkerung gejagt und ermordet. Allein in der Scheune kamen 1016 Menschen um. 24 Stunden später rückten die Befreier in Gardelegen ein: Soldaten der 102. US-Division, die am 15. April auch auf die Scheune stießen und das Massaker sowie viele der Opfer entdeckten und dokumentierten. Die Fotografien zeigen verbrannte und entstellte Körper und sind nur schwer zu ertragen.

In der neuen Ausstellung, die zum Anlass des 75. Jahrestages des Verbrechens diesen Montag hätte eröffnet werden sollen - im Beisein von Nachfahren der wenigen Überlebenden und von US-Soldaten sowie in Anwesenheit des Bundespräsidenten -, werden diese Fotografien gezeigt. Daneben aber gibt es auch bildliche Darstellungen, die die Vorgeschichte nachempfinden lassen: die Todesmärsche. In Ermangelung von Fotografien habe man sich dafür entschieden, sie als Graphic Novel zu gestalten, sagt Froese. Mit überwiegend in schwarz-weiß gehaltenen Bilderfolgen wird, gestützt auf Berichte von Augenzeugen und Protokolle von Vernehmungen, eine teils dokumentarische, teils fiktionale Nacherzählung der elf Tage von der Zusammenstellung der Märsche in den Lagern ab dem 4. April bis zu deren Endpunkt versucht. Ein solches Mittel sei in der Gedenkstättenlandschaft in der Bundesrepublik »ein gewisses Novum«, sagt Froese,

Die grafischen Bildfolgen sind eines der zentralen Elemente einer neuen Dauerausstellung, wie sie bisher in Gardelegen nie gezeigt werden konnte - in Ermangelung eines Gebäudes. Zwar dient der Ort, der von weiten Feldern und Alleen voller Obstbäume umgeben ist, schon lange der Erinnerung. Seine zentralen Elemente sind ein Gräberfeld mit Reihen weißer Kreuze, das die US-Armee direkt nach Kriegsende anlegen ließ, sowie eine in den 50er Jahren aus Steinen der alten Feldscheune erbaute Gedenkmauer. Sie war Mittelpunkt einer in der DDR eingerichteten Gedenkstätte, in der man der Toten pauschal als »antifaschistischer Widerstandskämpfer« gedachte. Nachdem sich ab 1989 zunächst weiter die Stadt Gardelegen für den Erinnerungsort verantwortlich gefühlt hatte, wurde er 2015 in die Stiftung Gedenkstätten des Landes Sachsen-Anhalt aufgenommen. Was es aber in all der Zeit nie gab, waren Räumlichkeiten, in denen Vorgeschichte und Hintergründe des Massakers erklärt und an Interessenten, etwa Schulklassen, hätten vermittelt werden können. Gardelegen war eine »Freiluftgedenkstätte«, sagte Kai Langer, Chef der Gedenkstättenstiftung, im Jahr 2018.

Damals war endlich der Grundstein für ein Dokumentationszentrum gelegt worden, was nicht nur NS-Opferverbände und erinnerungspolitische Initiativen für überfällig hielten, sondern auch Sachsen-Anhalts Politik. Schon 2012 beschloss der Landtag, dass die »Voraussetzungen für die Errichtung einer (...) wissenschaftlichen und pädagogischen Standards genügenden Gedenkstätte« geschaffen werden sollten. Im April 2016 entschied eine Jury, dass das Besucher- und Dokumentationszentrum nach dem Entwurf eines Berliner Architektenbüros errichtet werden sollte. Zwischenzeitlich gab es Rückschläge. Im Regierungsentwurf für den Etat 2017/18 war kein Geld für den Bau eingestellt; eine »Schocknachricht«, wie es in einer Resolution des Gardelegener Stadtrats heißt. Erst Proteste bewirkten ein Umdenken. Als im April 2018 an den 73. Jahrestag des Massakers erinnert wurde, war das Baufeld für den Neubau beräumt; kurz darauf begann der Bau endlich zu wachsen.

Nun, zwei Jahre später, wäre das lang ersehnte Besucherzentrum bereit zur feierlichen Einweihung. Entstanden ist ein rund 70 Meter langer Flachbau mit Wänden aus Sichtbeton. Äußerlich wirkt das Gebäude schlicht - was gewollt ist, sagt Froese. Zu den Vorgaben für die Architekten habe gehört, dass es nicht in optische Konkurrenz zum eigentlichen Gedenkort treten dürfe: dem Gräberfeld und der Gedenkmauer. Von innen aber eröffnet sich dem Besucher in der Dauerausstellung durch große Panoramafenster an mehreren Stellen der Blick auf die Mauer und, durch eine Schneise in einem kleinen Wäldchen, die weißen Grabkreuze. Auf diese Weise, sagt Froese, »fügen sich die verschiedenen Orte perfekt zusammen«.

Durch den Neubau zieht sich in voller Länge ein Gang, der präzise auf dem letzten Wegstück des Todesmarsches verläuft. An den Wänden des Flurs sind die Bilder der Graphic Novel zu sehen, die dessen Stationen nachzeichnen. Die einzelnen Sequenzen sind von hinten beleuchtet und sollen durch ihre Anordnung eine dynamische Bewegung vermitteln: »Je mehr wir uns dem Massaker annähern, um so dichter wird die Zeitfolge«, sagt Froese. Ergänzt werden die Grafiken durch Originalzitate, die die Authentizität des Gezeigten belegen. Das eigentliche Massaker wird anhand einiger Fotos dargestellt, die nach dessen Entdeckung entstanden sind, wobei manche wegen der Grausamkeit des Dargestellten in einem separaten Raum gezeigt werden, von dem Besucher selbst entscheiden, ob sie ihn betreten. »Wir wollen niemanden überwältigen«, sagt Froese. Die Ausstellung soll sich auch Gästen erschließen, die darauf verzichten.

Ergänzt wird die chronologische Nacherzählung der historischen Ereignisse durch Reproduktionen historischer Dokumente und ein gutes Dutzend weiterer Exponate, deren wohl bemerkenswertestes das Original einer hölzernen Tafel ist, die von der US-Armee am Gräberfeld errichtet wurde. Neben dem Hinweis, dass dort 1016 Kriegsgefangene bestattet sind, ist auf Deutsch und Englisch auch von einer Verpflichtung für die Gardelegener Bürger die Rede, die Gräber »ebenso frisch zu bewahren wie das Gedächtnis der Unglücklichen in den Herzen aller freiheitsliebenden Menschen bewahrt bleiben wird«. Die Tafel wurde in den 60er Jahren durch eine nur noch auf Deutsch beschriftete Version ersetzt, auf der, anders als im Original, von den »Verbrechen des Faschismus« die Rede war. Diese sei ihrerseits »ein Zeitdokument« der Erinnerungskultur jener Jahre, sagt Froese. Die ursprüngliche Tafel fand als Schuppenwand Verwendung und landete später im Stadtmuseum. Ihre Spur verlor sich nach dessen Auflösung Anfang der 90er Jahre. Obwohl Froese, der die Gedenkstätte seit 2015 leitet, intensiv recherchierte, gab es keine Hinweise - bis die Tafel von 3,08 mal 2,50 Meter im Frühsommer 2019 doch auftauchte. Nun gehört sie zu den augenfälligsten Objekten einer Schau, die bundesweit Beachtung finden wird; neben der Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald (Brandenburg) handelt es sich um die einzige in Deutschland, die speziell den Todesmärschen gewidmet ist.

Allerdings ist offen, ab wann sie für Besucher zugänglich sein wird. Die Gedenkstätte ist, wie alle anderen im Land, wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Über die Vorsorgemaßnahme habe sich »niemand hier beschwert«, sagt Froese, auch wenn es die Mitarbeiter »kalt erwischt« habe, dass der lange und aufwendig vorbereitete Festakt mit politischer Prominenz und internationalen Gästen abgesagt werden musste und die Eröffnung des Dokumentationszentrums, auf die man so lange hingearbeitet habe, auf unbestimmte Zeit verschoben ist. Froese hofft, dass nicht zu viel Zeit vergeht, bis sich Interessenten selbst ein Bild von der ersten Dauerausstellung in der Gedenkstätte und von dem Neubau machen können, den ihr Leiter als »hell, offen und überhaupt nicht düster« empfindet. Dort wird nun endlich fundierte Bildungsarbeit möglich. Es gibt genug Raum für eine Sammlung und das Haus bietet eine Atmosphäre, die laut Froese »Ideen für neue Forschungsvorhaben wachsen« lässt.

Fest steht: Eine Eröffnung in zeitlicher Nähe zum 75. Jahrestag des Massakers wird es nicht geben. Dessen ungeachtet soll der Opfer des Verbrechens dennoch gedacht werden. »Wir Mitarbeiter werden stellvertretend für alle, die gern gekommen wären, einen Kranz niederlegen«, sagt Froese - am Tag der geplanten Eröffnung, dem 6. April. Wer möchte, kann sich diesem Gedenken »jenseits physischer Präsenz« anschließen, mit einer Gedenkminute in seinem Alltag um 13 Uhr oder anderen Formen des Erinnerns: in Text, Gedicht oder Bild. Wer diese mit anderen teilen möchte, kann sie über die Adresse info-isenschnibbe@erinnern.org an die Gedenkstätte schicken, die sie auf ihrer Internetseite veröffentlichen würde. Froese will zudem in Onlinenetzwerken unter dem Hashtag gardelegen45 bis zum 25. April, dem Jahrestag der Einweihung des Friedhofs, taggenau über die historischen Abläufe vor 75 Jahren informieren. Und danach freut er sich auf die ersten Besucher des Neubaus und der neuen Ausstellung - wann immer sie kommen dürfen.

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