Neben der Spur

Den Ausnahmezustand spüren alle - einige aber spüren ihn deutlicher, als Bedrohung ihrer Existenz

Der Zeitungsausschnitt im Fenster ist bereits ein wenig vergilbt. Im September führte Anne Löper in Bad Sooden-Allendorf das tamilische Märchen »Der Jasminprinz« auf. »Zauberhaftes wie von Zauberhand« titelte die Lokalzeitung den Auftritt der Sandmalerin in der St.-Crucis-Kirche.

Mit braunem Sand aus der Wüste Gobi entwirft die 39-jährige Künstlerin auf einem Lichttisch ihre Bilder. Ein Projektor wirft das entstehende Gemälde auf eine Leinwand. Die Zuschauer können miterleben, wie ein Sandbild nach dem anderen entsteht. Eine Erzählerin liest dazu eine Geschichte. Musiker begleiten den Text, mal ein einzelner - wie der Geiger Miko Mikulicz in der Crucis-Kirche -, mal ein ganzes Orchester. Die lobende Besprechung in der »Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen« wirkt wie aus einer vergangenen Zeit. Der vor der Corona-Epidemie.

Seit Anfang März wurde wegen der Coronakrise eine Veranstaltung nach der anderen abgesagt. »Gestern hätte ich eigentlich einen Auftritt in Frankfurt vor 500 Leuten gehabt«, erzählt Anne Löper. »Insgesamt neun Auftritte finden in den nächsten zwei Monaten nicht statt. Das gab es noch nie. Dagegen bin ich auch nicht versichert.« Ihre einzige Einnahmequelle sind jetzt noch die Postkarten ihrer Sandbilder auf einem Ständer am Fenster ihres Ateliers, die sie auch online vertreibt. Aber vom Postkartenverkauf kann sie nicht leben. »Anderthalb oder zwei Monate kann ich mich noch über Wasser halten, dann ist der Puffer aufgebraucht«, so die Kleinunternehmerin.

Noch dauert die Auszeit erst wenige Wochen. In der nordhessischen Kleinstadt Witzenhausen kommt die Post weiterhin, die Mülltonnen werden geleert. In der Kniegasse, wo Anne Löper wohnt, deutet nicht viel auf die Coronakrise hin. Nur dass es hier noch ruhiger ist als sonst. Fast menschenleer. Keine Kinderschar läuft mehr von einem Haus zum anderen. Kein Fußball mehr an den Garagen. Wer will, kann zuhören, wie der Wind einzelne Blätter über die Straße weht.

Ob er sich über die seltsam lange anhaltende Feiertagsruhe freuen soll, das weiß Jacob Thiengthepvongsa nicht. Gerade hat er eine Grippe überstanden. Auf das Coronavirus ließ er sich nicht testen, aber zwei Wochen lang blieb er zusammen mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern konsequent in der Wohnung. Jetzt zieht es Jacob Thiengthepvongsa wieder auf die Baustelle. Er arbeitet als selbstständiger Zimmerer und baut gerade mit anderen Handwerkern einen Hof aus. »Das könnte meine letzte sichere Baustelle sein«, meint der 35-Jährige.

Zwar scheint das Baugewerbe bislang weniger als andere Branchen von der Coronakrise betroffen zu sein. Trotzdem rechnet er damit, dass nicht wenige in der Krise davor zurückschrecken werden, ein Haus zu kaufen und es umbauen zu lassen. »Wir können derzeit auch nur hoffen, dass es keine Materialengpässe geben wird. Wenn die Hersteller Coronafälle in ihren Betrieben haben, könnte es schnell schlecht aussehen.«

Die Konjunktur bekommt eine Delle, da sind sich die Fachleute einig. Wie groß die sein wird, und welche Branchen besonders betroffen sein werden, ist bislang unklar. Ebenso, welche Auswirkungen die Coronakrise auf den Menschen haben wird. Manchen bereitet die Pandemie Angst, anderen schlägt die Kontaktsperre aufs Gemüt, viele werden wirtschaftliche Probleme bekommen. Aber wird es auch eine neue große Depression geben? Manche ziehen bereits Vergleiche zur Weltwirtschaftskrise der späten 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Wer erlebt, wie Gustav Fischer in einem der typischen Fachwerkhäuser in der Kniegasse eine Decke spachtelt, dem fällt es schwer, an eine Wirtschaftskrise zu denken. Der 69-Jährige hofft, bis November mit dem Obergeschoss fertig zu sein, und es dann zu vermieten. Die meiste Zeit ist er alleine auf der Baustelle. »Wenn ich in Quarantäne muss, bleibe ich einfach hier.« Ohnehin arbeitet er fast immer. Von Montag bis Sonntag, ob mit oder ohne Krise. Dabei ist er schon lange in Rente.

Sein ganzes Leben hat Gustav Fischer in der kleinen Altstadtgasse unweit der Werra verbracht. Manchmal erzählt er, wie die Straße früher ausgesehen hat, wo einmal ein Schuhladen war, wo eine Gärtnerei. Er selbst hatte einen Elektroladen, den er jedoch vor zehn Jahren aufgab, weil die Geschäfte nicht mehr liefen.

Mit Ende 50 wagte der Elektromeister einen Neuanfang und machte zusammen mit seiner Frau Elvira eine Pension auf. In dem früheren Ladenraum befindet sich heute der Frühstücksraum, darüber liegen vier Gästezimmer. Gerade in den Sommermonaten sind viele Touristen auf dem Werra-Radweg unterwegs und suchen abends eine Bleibe. Doch jetzt ist Flaute. »Die Buchungen sind komplett auf null.« Zurzeit dürfen Zimmer nicht mehr vermietet werden.

Gravierend ist die Situation für Satinder Bir Singh. Nur noch selten fährt er mit seinem weinroten Kleinwagen über den Garagenplatz neben der Pension von Gustav Fischer. Er führt in der benachbarten Ermschwerder Straße den Imbiss »Rialto«. Zwar hat er ein paar Tische im Souterrain stehen, aber oft ist der 52-Jährige dort mit seiner Familie alleine. Umsatz macht er vor allem mit dem Lieferservice. Obwohl der Außerhausverkauf noch erlaubt ist, bleiben die Bestellungen zunehmend aus. Als ob viele seiner Kunden sich sein Essen seit der Coronakrise nicht mehr leisten wollten. Dabei sind seine Preise moderat. Eine Pizza kostet zwischen fünf und acht Euro, indische Currys 10 bis 14 Euro.

Nicht alle Gewerbetreibenden werden es schaffen, durch die Coronakrise zu kommen. Auch wenn jetzt staatliche Hilfsprogramme und günstige Kredite angeboten werden. »Ich habe Einbußen von mehr als 50 Prozent«, erklärt Satinder Bir Singh am geöffneten Fenster. »Ein paar Wochen geht das ja, aber wenn das länger dauert, wird es schwierig. Ich muss hier für den Laden alleine jeden Monat 550 Euro Strom bezahlen, hinzu kommt die Miete.«

Vorerst macht er unbeirrt weiter, konzentriert sich aufs Kerngeschäft, seine Küche. »Noch habe ich nicht den Überblick, welche Hilfen ich in Anspruch nehmen kann«, sagt er. »Ich muss erst mit meinem Steuerberater darüber reden.« 23 Jahre führt er den Imbiss jetzt zusammen mit seiner Frau. Das Geschäft sichert ihnen mehr als nur den Lebensunterhalt. Es gibt ihm auch das Gefühl, in Deutschland angekommen zu sein.

Anne Löper ist nach den vielen abgesagten Auftritten nach Dresden gefahren, wo ihr Vater und ihr Bruder leben. »Es ist gut, hier zu sein«, erzählt sie am Telefon. »In der Not rückt die Familie wieder enger zusammen.« Angst vor der Pandemie hat sie eigentlich nicht. Sie nutzt vielmehr die Zwangspause, um an einer Idee zu arbeiten, die sie schon lange vor sich herschiebt: ein Film über die Gedankenwelt von Leo Tolstoi. Der russische Literat ging der Frage nach, was ein Mensch zum Leben benötigt. Die will sie jetzt neu stellen. Das Drehbuch hat sie bereits angefangen zu schreiben. »Das ist das Schwierigste«, sagt sie. Die Bilder nachher am Leuchttisch zu malen - sie zu sanden -, da hilft ihr das Talent.

Talent macht bekanntlich nicht satt. Um die auftrittsfreie Zeit zu überbrücken, hat sich Anne Löper jetzt beim Jobcenter gemeldet, um für die Dauer von vier Monaten Hartz IV zu beziehen. Dann hofft sie, wieder Einnahmen zu haben. Als sie nach anderthalb Wochen bei ihrer Familie nach Witzenhausen zurückkehrt, erzählt sie außerdem, dass sie die Soforthilfe des Bundes beantragt hat. »Das Regierungspräsidium Kassel hat mir umgehend 6500 Euro in Aussicht gestellt.«

Jacob Thiengthepvongsa dagegen bezweifelt, ob er als Solo-Selbstständiger etwas von der staatlichen Unterstützung bekommen würde. Laufende Kosten hat er fast keine; er muss keine Werkstatt unterhalten, sondern fährt mit E-Bike und Anhänger zur Baustelle. Die Krise wird er wohl erst im Herbst zu spüren bekommen, wenn er möglicherweise ohne Aufträge dasteht. Häufig arbeitet er als Subunternehmer für Zimmerermeister auf Baustellen. Ein solcher Auftrag war auch für den Spätsommer geplant. »Wahrscheinlich wird der jetzt wegbrechen«, befürchtet er.

Einen Engpass spürt auch Gustav Fischer. »Meine Rente stecke ich gerade in die Wohnung, die ich renoviere.« Vier Häuser besitzen er und seine Frau in Witzenhausen. Einige Kredite laufen noch. »Ich habe schon einen Antrag bei meiner Bank gestellt, um sie zu stunden.« Ohne Einnahmen der Pension sehe es schlecht aus, sagt er und verzieht sich dann wieder auf die Baustelle.

Noch sind die vier Selbstständigen aus Witzenhausen überwiegend optimistisch und hoffen, den Ausnahmezustand halbwegs unbeschadet zu überstehen. Wie ein heftiger Platzregen ist die Krise über sie hereingebrochen, und ganz unterschiedlich suchen sie Schutz. Eine Ungewissheit teilen sie alle: Wie lange wird dieser Ausnahmezustand andauern? Viele sagen, das Leben nach der Coronakrise werde ein anderes sein. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als ihr Leben weiterzuführen wie bisher. Anne Löper möchte Geschichten mit Sandbildern erzählen, Jacob Thiengthepvongsa alte Häuser renovieren, Gustav Fischer auf seinen Baustellen frickeln und Satinder Bir Singh bald das 25-jährige Jubiläum seines Imbisses feiern.

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