Wie Harry Potter, nur als Mädchen

Eine Schnitzeljagd durch Berliner Milljöhs und Historien

  • Lesedauer: 8 Min.

«Berliiiiin! Wir sind gleich da! Fahr noch ein bisschen schneller, okay?»

Anna blickte zu ihrem Sohn, der auf dem Beifahrersitz saß und ungeduldig auf und ab wippte. «Immer mit der Ruhe, Matti», sagte sie und lächelte. «Unser Käfer gibt schon alles. Schau lieber, dass wir die richtige Ausfahrt nehmen.» Matti warf einen Blick auf das Navi. «Okay. Wir fahren an der Ausfahrt Spanische Allee ab. Müsste bald kommen.» Noch war die Autobahn umgeben von Kiefernwäldern. Darüber strahlte der blaue Sommerhimmel. Mit leuchtenden Augen sah Matti hinaus. Ferien bei Max! Ob der sich auch schon so freute? Er öffnete das Fenster, und Anna erschrak, als der Wind ihr die Haare ins Gesicht blies. «He, du Witzbold! Mach sofort wieder zu!» «Ja, aber: Daaaas ist die Berliner Luft, Luft, Luft!», trällerte ihr Matti entgegen, «so mit ihrem holden Duft, Duft, Duft! Wo nur selten was verpufft, pufft, pufft!» Er schloss das Fenster wieder. Anna schüttelte den Kopf. Dieser kleine Schauspieler. Wie sein Vater Magnus, der gerade zu Hause in München am Theater probte.

Sandra Lehmann und Manja Adamson

Ferien in Berlin! Besser geht’s nicht, finden Matti und Max. Dann entdecken sie im Garten ihrer Freundin Vicky auch noch eine alte Schmuckschatulle. Wem gehört sie? Auf keinen Fall dem fiesen Nachbarn Papke, der vor scheinbar nichts zurückschreckt, um den Fund an sich zu reißen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Die Suche nach den wahren Erben ist voller Hindernisse. Sie führt die Freunde quer durch Berlin und mitten hinein in die wechselvolle Geschichte der Stadt zwischen Rosinenbombern und Mauerfall.

Autorin Sandra Lehmann, Jahrgang 1972, wuchs in der Pfalz und auf einer Insel im Detroit River auf. In Mainz und Dijon studierte sie Pharmazie und zog nach dem Studium nach Berlin. Heute lebt sie in der Nähe von Frankfurt und arbeitet als Apothekerin und Autorin.
Illustratorin Manja Adamson, geboren 1976, wuchs ebenfalls in der Pfalz auf und unterrichtet seit ihrem Kunststudium mit Schwerpunkt Zeichnung Kunst an verschiedenen Hochschulen im Rhein-Main-Gebiet.

Ein Knall riss sie aus ihren Gedanken. «Mama? Was war das?» Matti klammerte sich an den Türgriff. «Ich weiß es nicht. Gut festhalten, Matti! Wir fahren besser runter von der Autobahn.» Ein großes blaues Schild kündigte die Ausfahrt Wannsee an. Schlingernd fuhr der Käfer bis zur nächsten Ampel. Anna atmete tief durch. «Puuuh! Uns ist nichts passiert! Aber eins ist klar, so können wir nicht weiterfahren. Vielleicht ist ein Reifen geplatzt.» Die Ampel schaltete auf Grün. «Mama, bieg ab!» Matti zeigte nach links. «Ich hab an der Ausfahrt eine Raststätte gesehen.» Anna fuhr los und folgte der Straße bis zu einem großen Parkplatz. Vorsichtig bremste sie und hielt an. Matti öffnete als Erster die Tür und stieg aus. Gemeinsam liefen sie um das Auto herum. Kopfschüttelnd blieben beide vor dem traurigen Rest des rechten Hinterreifens stehen. Matti kniete sich hin und nahm den Schaden genauer unter die Lupe. «Tja, da verpufft wohl doch mal was hier in Berlin.» Anna seufzte und sah sich um. Die rote Raststätte lag inmitten von Bäumen verlassen vor ihnen. Große weiße Buchstaben zogen sich über das runde Gebäude: DREILINDEN. Nur ein kleines Stück entfernt rauschte der Verkehr der Autobahn an ihnen vorüber. Matti griff nach seinem Handy. «Ich ruf Max an und sag ihm, wo wir sind.»

«Das ist ja mal wieder typisch!» Grinsend stand Max neben seinem Freund. «Kaum bist du in Berlin, geht die Action schon los.» Hinter ihnen fuhr gerade der Abschleppwagen vom Parkplatz. Hannes, der Papa von Max, nahm Anna das Gepäck ab und lud es in sein Auto. Die roten Haare standen wie die seines Sohnes wild vom Kopf ab. «Ist auf jeden Fall schön, jetzt hier zu sein», meinte Matti und sah sich um. «Ich dachte nur, es wäre ein bisschen mehr los in Berlin. Ist ja kein Mensch hier!» Max lachte und schüttelte den Kopf. «Hallo? Das ist eine verlassene Raststätte und nicht die Berliner Innenstadt!» «Ich habe Dreilinden auch schon viel voller erlebt», meldete sich Anna zu Wort. «Das war hier früher nämlich einer der Grenzübergänge zwischen Ost und West, als Deutschland und Berlin noch geteilt waren.» Hannes nickte. «Ja, das stimmt. Sah man Dreilinden, war man bald zu Hause in West-Berlin. Aber nun steigt erst mal ein, ihr möchtet sicher endlich ankommen.» «Ja, nach dem Schrecken gerade eben …» Anna schüttelte den Kopf. «Gut, dass es nur ein geplatzter Reifen war. Morgen muss ich schon weiter Richtung Ostsee düsen. Eine Woche Fotoreportage am Meer …» «Und ich bleibe in Berlin. Das wird so cool!», unterbrach ihr Sohn sie. Anna schmunzelte. «Ja, Matti spricht seit Tagen von nichts anderem mehr.»

«Mamaaaa!»

Hannes lachte. «Das kommt mir bekannt vor.» Er wartete kurz, bis alle angeschnallt waren, und fuhr los. «Matti, schau mal nach rechts Richtung Autobahn!» Max stieß seinen Freund von der Seite an. «Ich sehe was, was du nicht siehst.» «Ooooh! Der Berliner Bär! Da ist er», rief Matti und blickte auf die Statue, die vom Mittelstreifen aus mit erhobener Tatze alle Besucher begrüßte. «Für uns geht’s aber nicht mehr auf die Autobahn», sagte Hannes. «Wannsee ist nämlich nicht weit von Nikolassee, wo wir wohnen.» Es dauerte keine zehn Minuten, da ruckelte der Wagen über das Kopfsteinpflaster alter Straßen. Große Bäume warfen ihre Schatten auf die breiten Gehwege. Hannes bog in eine Garagenauffahrt und hielt an. Gespannt blickte Matti hinaus. Hinter einem hellen Holzzaun und blühenden Büschen entdeckte er in einem Garten ein weißes Haus mit Erkern. In die Stille hinein knurrte sein Magen. «Komm, lass uns aussteigen!», sagte Max und lachte. «Mama hat bestimmt ordentlich was aufgetischt.»

Matti klopfte sich auf den Bauch und ließ wie Max die Füße aus der Hängematte baumeln. Über ihnen rauschte ein leichter Wind durch die Blätter der alten Bäume. Etwas entfernt saßen Anna, Lotte und Hannes am Gartentisch bei Kaffee und Streuselkuchen - oder eher dem, was davon übrig geblieben war. «Jetzt bin ich satt», verkündete Matti. Max sah seinen Freund von der Seite an und lachte. «Kaum zu glauben. Den Kuchen hat übrigens meine Oma Leni heute Morgen gebacken.» «Oma Leni? Wohnt die auch hier?» Matti schaute sich um. Das Haus, in dem Max mit seinen Eltern lebte, schien ihm dafür auf jeden Fall groß genug. «Früher mal. Inzwischen wohnt sie aber in Charlottenburg. Du lernst sie bestimmt bald kennen. Wenn ich Ferien hab und Mama und Papa in der Apotheke sind, besucht sie mich oft.» Matti nickte. Das mit der Apotheke hatte er fast vergessen. «Und Vicky? Wo wohnt die?» Er freute sich darauf, Max’ beste Freundin endlich zu treffen. Sie hatte ihnen bei ihren Abenteuern auf Kreta und in New York mit ihren Tipps und Ideen sehr geholfen. «Im Haus gegenüber. Vielleicht kommt sie später noch. Bei ihr zu Hause ändert sich gerade vieles.» Fragend sah Matti seinen Freund an. «Vicky hat seit ein paar Wochen einen Bruder: Oskar. Ihre Mutter möchte nicht, dass sie wegen des Babys zu kurz kommt.» Max kicherte. «Dabei liebt sie ihre kleinen Freiheiten.» «Hey! Sprecht ihr von mir?», ertönte da eine Stimme hinter ihnen, und die Hängematte bekam einen Schubs. Matti hüpfte hinunter ins Gras und drehte sich um. Dort stand ein Mädchen und pustete sich den kurzen Pony aus der Stirn. Hinter einer runden Nickelbrille sah ihn ein Paar wache grüne Augen an. Matti kannte sie bisher nur von Videobotschaften, aber genau so hatte sie ausgesehen. Wie Harry Potter, nur als Mädchen: Vicky!

Pack die Badehose ein!

Matti und Vicky standen einander gegenüber und grinsten. «Hey!», rief Max und machte einen Satz aus der Hängematte ins Gras. «Was ist denn los? Hat’s euch die Sprache verschlagen?» Vicky lachte und gab Max einen Schubs. «So ein Quatsch!» Sie reichte Matti die Hand. «Willkommen in Berlin! Ich bin Vicky. Ist schon lustig, sich jetzt mal live zu sehen, oder?» «Du siehst wirklich aus wie Harry Potter!», sagte Matti und schlug sich dann die Hand vor den Mund. Hatte er das gerade laut gesagt? Äääh, also als Mädchen natürlich und viel hübscher.« Sein Gesicht nahm die Farbe einer reifen Tomate an. Max prustete los. »Na, das kann ja lustig werden die nächste Woche.« »Lass dich nicht ärgern«, sagte Vicky zu Matti. »War total nett, was du gesagt hast. Ich bin aber eine Haberland und keine Potter, obwohl das sicher cooler wäre.« Sie griff in ihre Hosentasche und holte Kaugummi hervor. »Möchtet ihr auch?«, fragte sie. Die Jungen nickten. »Ich wollte eigentlich schon früher da sein, aber ich war mit Mama und Oskar unterwegs.« Sie ließ eine große Kaugummiblase knallen und sah dann zu Matti. »Oskar ist mein kleiner Bruder, weißt du?« Matti nickte, dankbar für die Ablenkung. »Ist bestimmt jetzt viel los bei euch?« Vicky ließ sich ins Gras fallen. »Aber echt! Ruhige Ferien - das war einmal.« Sie lachte. »Macht aber nichts. Oskar ist toll.« Die Jungen setzten sich neben sie in den Schatten eines Baumes. »Und? Was steht bei euch in den nächsten Tagen an?« »Hmmmm, so weit sind wir noch gar nicht«, sagte Max. »Berlin unsicher machen, aber vielleicht geht’s bei dem super Wetter morgen auch erst mal ins Strandbad Wannsee!«

»Pack die Badehose ein«, sang Matti und schwang die Hand im Takt, »nimm dein kleines Schwesterlein und dann nüscht wie raus nach Wannsee …« Vicky verschluckte sich vor Lachen fast an ihrem Kaugummi. »Du bist super, echt. Hast du noch mehr Lieder auf Lager?« Matti grinste. »Klar. Mein Papa hat mich gründlich auf Berlin vorbereitet.« Max schüttelte belustigt den Kopf. »Na, da bin ich ja mal gespannt.« Er wandte sich an Vicky. »Sein Vater ist nämlich Schauspieler.« »Weiß ich doch. Voll cool! Du kannst übrigens morgen mein Rad nehmen, Matti. Dann seid ihr ganz schnell am Wannsee.« »Danke! Kommst du denn nicht mit?« »Nein. Ich bin morgen bei meiner Tante. Du weißt ja, wo mein Rad steht, Max.« »Du meinst dein rosarotes Rad?« »Rosarot?« Vicky lachte. »Ja klar! Ist ein stinknormales Mountainbike, versprochen, Matti!« Sie erhob sich aus dem Gras. »Ich muss leider wieder los. Klingelt morgen, wenn ihr zurück seid, ja? Bis dahin bin ich bestimmt auch wieder da.« Matti und Max blickten Vicky nach, die ihnen noch kurz zuwinkte und dann aus dem Garten verschwand.

Sandra Lehmann und
Manja Adamson:
Matti und Max.
Abenteuer in Berlin
Verlag Biber & Butzemann
128 S., geb., 15,95 €
Für Leser von 8 bis 12 Jahren

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