»Von Solidarität müssen alle profitieren«

Der Europapolitiker Helmut Scholz über den Schuman-Plan, das Manifest von Ventotene und die Zukunft der EU

Vor 70 Jahren hat der damalige französische Außenminister Robert Schuman die Schaffung einer Europäischen Montanunion angeregt. Das gilt als Geburtsstunde der heutigen EU - der 9. Mai wird heute als Europatag begangen. In der Erklärung enthalten war der Satz, dass ein gemeinsames Europa nur durch eine »Solidarität der Tat« geschaffen werden könne. Damit scheint es heute nicht weit her zu sein.

Ich glaube schon, dass es Solidarität gibt. Aber ist das nicht eine Solidarität, die sich nur an eigenen, nationalen Interessen orientiert? Das ist doch der Punkt, wenn wir am 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung über den Nutzen und die weitere Perspektive des Integrationsprozesses sprechen.

Im Interview

Helmut Scholz ist Mitglied der Delegation der Linkspartei im Europäischen Parlament. Der Abgeordnete ist u.a. im Ausschuss für Konstitutionelle Fragen tätig. Über den 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung und die von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen vorgeschlagene Zukunftskonferenz der Europäischen Union sprach mit ihm Uwe Sattler. Foto: privat

Ich bin da eher bei einem anderen Vordenker eines neuen Europas, bei Altiero Spinelli. Der Antifaschist hatte bereits 1941 gemeinsam mit anderen progressiven Politikern, die auf der italienischen Gefängnisinsel Ventotene inhaftiert waren, die Vision eines wirklich solidarischen Europas entworfen. Eines Europas, das von Völkerfreundschaft und gemeinsamem Handeln zum ebenfalls gemeinsamen Nutzen geprägt ist. Kurz: Solidarität ist wichtig - wenn alle gleichermaßen davon profitieren.

Corona hat die Handlungsunfähigkeit der »Gemeinschaft« deutlich gemacht. Wird die EU nach der Pandemie eine andere sein müssen und können?

Die Coronakrise ist nur eine weitere Zuspitzung der Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems mit all ihren negativen Auswirkungen für Klima, Umwelt, das gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben. Insofern ist sie auch ein Fenster, das sich öffnet, um über die Zukunft der EU zu diskutieren. Und das muss mit den Bürgerinnen und Bürgern geschehen und nicht, wie es der frühere EU-Kommissionspräsident Juncker gemacht hat, per Vorlage aus Brüssel an die Regierungen.

Die jetzige Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, wollte zum Jahrestag der Schuman-Erklärung eine EU-Zukunftskonferenz starten. Wäre das ein Ansatz für diese Debatte?

Als Frau von der Leyen im letzten Jahr im Europaparlament die Konferenz ankündigte, war ihr sicher bewusst, dass ein einfaches »Weiter so!« in der EU nicht mehr funktionieren wird. Deshalb hat sie auch ihre Kommission eine »geostrategische Kommission« genannt.

Ex-Präsident Juncker sprach dagegen von der »Kommission der letzten Gelegenheit« und entwarf seine Zukunftsszenarien, auf die die Mitgliedstaaten jedoch nicht antworteten. Es gab auch keine europaweite Debatte, und schon gar nicht in der Bevölkerung darüber. Insofern hat sich von der Leyen mit ihrem Vorstoß der Notwendigkeit gestellt, einen breiten gesellschaftlichen Diskurs zumindest zu eröffnen, um Schlussfolgerung aus dem unbefriedigenden Zustand zu ziehen, in dem sich der Integrationsprozess sieben Jahrzehnte nach Schumann befand und befindet.

Rat und EU-Kommission sind aber bereits vor Corona zurückgerudert, was mögliche Ergebnisse einer solchen Konferenz anbelangt. So sollen die Europäischen Verträge, die Basis der heutigen EU, nicht angetastet werden. Welchen Sinn macht dann eine Konferenz, die letztlich nur das Bestehende effektivieren soll, statt es zu verändern?

Darum geht ja der Streit zwischen den Institutionen. Das Europaparlament ist bereit, die Verträge zu revidieren. Denn es ist vollkommen klar, dass am Ende dieser Konferenz ein Ergebnis stehen und ein Folgeprozess einsetzen muss. Daher muss die Konferenz nach meiner Meinung auch alle Themen ansprechen, die den Bürgerinnen und Bürgern auf den Nägeln brennen. Und zwar in einer Debatte, die quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und Gruppierungen geht. Was jedoch am Ende einer solchen Konferenz konkret steht, ist offen. Anders kann es ja gar nicht sein, wenn man sie nicht als scheindemokratische Übung sieht.

Allerdings wissen wir auch, wie die Mehrheitsverhältnisse in den EU-Mitgliedstaaten aussehen. Linke Kräfte, die sich für eine andere EU einsetzen, sind nicht in der Mehrheit. Es geht aber auch gar nicht darum, wer vernünftige Ideen einbringt, wie wir die Welt und die Umwelt bewahren können, wer Lösungen für Wirtschaft und Politik vorschlägt, sondern darum, dass sie überhaupt erst einmal eingebracht werden. Das aber will der Rat nicht, deshalb verschleppt er seit Dezember die Entscheidung über die Zukunftskonferenz.

Wie stellen sich die Linke in Europa und die Linksfraktion im Europäischen Parlament zu einer solchen Konferenz? Europa ist bekanntlich eines ihrer zentralen Streitthemen.

Die Linke wirkt immer in den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen der Mitgliedsländer. Und sie ist natürlich ein Teil der gesellschaftlichen Diskussion und Debatte, auch über die Zukunft der Europäischen Union. Es gibt Parteien, die sehr eindeutig sagen, ja, wir müssen uns in diesen Prozess konstruktiv einbringen. Andere sagen, wir wollen ja eben nicht dieses Europa, deshalb nehmen wir an diesem Prozess gar nicht erst teil.

Ich glaube aber, die Linke ist immer gut beraten, wenn sie sich in konkreter Zeit, in konkretem Raum mit sehr konkreten Vorschlägen an die Menschen wendet. Die Linke steht nicht neben der Gesellschaft, sie ist Teil von ihr.

Und was die Linksfraktion im Europaparlament anbelangt: Es gibt auch in der GUE/NGL durchaus Abgeordnete, die bei der Zukunftskonferenz Bauchschmerzen haben. Aber wir verweigern uns nicht der Debatte über ein anderes Europa, in dem es eine solche Art von Solidarität gibt, wie sie Altiero Spinelli beschrieben hat.

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