Warum gibt es Stadttheater?

Wie von Christian Drosten persönlich abgenommen: »Die Pest« als Freiluft- und Ersatztheater in Berlin

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Theater steht ständig unter Legitimationsdruck. Gerne verweisen Dramaturgen auf die ihrer Kunst immanente Sozialstruktur. Es heißt dann, Theater sei die einzige Kunstform, bei der Produktion und Rezeption im Hier und Jetzt vollzogen würden oder poetischer: bei der Künstler wie Zuschauer »dieselbe Luft« atmen. Es ist diese Luft, die dem Theater in den letzten Monaten zum Verhängnis wurde. Die viel beschworene Geselligkeit vertrug sich nicht mit immunologischen Maßnahmen.

Der Lockdown hat das Theater nicht nur vor erhebliche finanzielle Probleme gestellt. Diese lassen sich lösen, der Bund hat gerade erst einen milliardenschweren Fonds eingerichtet. Viel härter ist das Selbstverständnis der Branche getroffen. Denn was bleibt vom Theater übrig, wenn es keinen Ort mehr hat, wenn es nicht mehr als Treffpunkt für Menschen dient, wenn die gemeinsame Luft nicht verbindet, sondern gefährdet? Oder anders und ketzerisch gefragt: Ist Kunst eigentlich Ergebnis dieses Settings, entsteht die spezifisch Ästhetik wirklich aus einer »autopoietischen Feedbackschleife« (Erika Fischer-Lichte) zwischen Publikum und Künstlern? Oder ist jede ästhetische Bemühung eigentlich nur Anlass für eine Versammlung, für Geplauder im Foyer, nur Gesprächsstoff für den Sekt im Anschluss?

In der Krise gaben sich Theaterleute schnell dem Aktionismus hin, versuchten, sich nicht zu sehr beirren zu lassen vom ernüchternden Fakt, dass sich kein Publikum Einlass begehrte, dass Zuschauer keine Petitionen zur Rettung der Häuser starteten, dass Theater schnell zu dem verkam, was es vielleicht schon sehr lange ist: eine Nebensache.

Corona hat gezeigt, dass die Künstler das Publikum sehr viel mehr brauchen, als das Publikum die Künstler. Um nicht zuletzt sich selbst von dieser bitteren Erkenntnis abzulenken, ließ man sich allerlei neue Konzepte einfallen: Streams von Aufzeichnungen, Schauspiel im Chatroom, Performances im Live-Video. Es scheint bei all diesen Bemühungen eher darum zu gehen, den Kontakt nach draußen nicht zu verlieren, denn eine ästhetische Zukunftsperspektive zu entwickeln. Die Parole von der »Systemrelevanz« der Bühne ging um, wurde als Ausdruck offensiven Selbstmitleids ausprobiert, ging aber zum Glück rasch unter. »Systemrelevanz« als Hoffnung der Künstler, rührender wurde die Domestizierung des Ästhetischen wohl noch nie beschrieben. Kunst, die das System stützt, ließe sich ebenso gut durch didaktische Konzepte ersetzen, durch politische Bildung oder durch Yoga-Kurse.

Die Schließung hinterlässt Wunden und motiviert unbequeme Fragen: Warum gibt es die Kunstform Theater, außer weil es Bühnen gibt? Warum gibt es Schauspieler, außer weil es Menschen gibt, die diesen Beruf ausüben? Warum gibt es Stadttheater, außer weil da diese hübschen Häuser in den Zentren herumstehen?

Derlei Fragen stellen sich dieser Tage, da die Theater ebenso zaghaft wie erleichtert wieder öffnen. Das Deutsche Theater lädt auf den Vorplatz, wo die Luft dünn genug ist und die Stühle in weitem Abstand voneinander stehen. Auch das Geschehen auf der Bühne wirkt wie von Christian Drosten persönlich abgenommen. Ein einzelner Schauspieler rackert sich dort ab, geht nicht durch die Reihen, schreit nicht, schwitzt nicht, hält höflich Abstand zum Publikum wie zu seinem Text, schlüpft versuchsweise mal in jene, mal in eine andere Figur.

Božidar Kocevski bestreitet den Abend mit sympathischer Dezenz, agiert mehr als Erzähler denn als Performer dieser Geschichte einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Als Requisiten dienen nur ein paar Stühle, die leeren Plätze jener, die an der Seuche zugrunde gehen oder der geliebten Menschen, die durch den Shutdown der verseuchten Stadt getrennt voneinander leben müssen.

Regisseur András Dömötör hatte Albert Camus’ Roman »Die Pest« schon im November adaptiert. Das kann man als perfektes Timing bezeichnen. Wer jetzt schon eine Pest-Inszenierung im Programm hat, darf sich freuen. Der Stoff wird die nächsten Spielzeiten wohl dominieren wie kein anderer. Und auch an diesem Abend sucht man unwillkürlich nach Parallelen zur Coronakrise. Jedoch, viel ist da nicht zu finden. Camus’ Roman lohnt ganz sicher einer Relektüre, wenngleich sein missionarischer Moralismus im 20. Jahrhundert besser aufgehoben war. Als Schablone für die Coronakrise aber ist er denkbar ungeeignet.

Die Pest ist nur Stellvertreterin für die großen Geißeln der Menschheit und die Figuren stehen jeweils für einen Umgang mit ihnen. Historisch verarbeitete Camus seine Zeit in der Résistance, es geht aber auch um Gewalt schlechthin, um Unterdrückung, um den Tod und um die Möglichkeit, sich gegen all diese Anmaßungen zu erheben. Der Roman handelt nicht von einer konkreten Krankheit, sondern schlechthin von der Last menschlicher Existenz.

Wer »Die Pest« als literarischen Stoff der Stunde liest, missversteht zugleich den Roman als auch die Gegenwart, vertritt womöglich gar die dekadente These, man könne aus der Coronakrise etwas lernen, wir würden am Ende geläutert aus ihr hervorgehen. Diese Haltung muss man sich gesundheitlich und finanziell erst mal leisten können; es spricht aus ihr der Zynismus jener, die noch aus jeder Krise als Gewinner hervorgehen. Die meisten Menschen werden am Ende dieser unserer Pandemie etwas verloren haben und im besten Falle handelt es sich nur um Geld oder einen Job. Auch das Theater wird sich maximal retten können, in einen Normalbetrieb hinein, in dem es sich nicht ständig selbst in Zweifel ziehen muss und das Spiel wieder momentweise alle Fragen in Luft auflöst.

Nächste Vorstellungen: 15.6., 16.6.

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