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Gewinner und Verlierer

Zweimal Deutschland - nur eine Episode unter anderen?

Sympathisch und deshalb lesenswert ist dieser Band nicht nur wegen der thematischen Spannbreite sowie kritischen und undogmatischen Reflexion von 40 Jahren deutscher Zweistaatlichkeit und 30 Jahren deutscher «Einheit», sondern auch, weil hier starke, emanzipierte Autorinnen, sozialisiert in der DDR, zu Wort kommen.

Die Schriftstellerin Daniela Dahn befasst sich mit zerschlagenen Hoffnungen: «Erfülltes Unerfülltes». Ein Ziel der Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen, die 1989 den Ausbruch aus den verkrusteten Strukturen im zweiten deutschen Staat wagten und zu denen sie gehörte, war ein solidarisches Gemeinwesen«, das sich - so ihr nüchterner Befund - zweifellos mit der überstürzten »Vereinigung« nicht erfüllt hat. Ebenso wenig der Wunsch der DDR-SPD, nach einem »strikten Monopolverbot zur Verhinderung undemokratischer Konzentration ökonomischer Macht«. Daniela Dahn bekennt offen: »Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus.« Fast schon sehnsüchtig blickt sie auf Verlorengegangenes zurück: »Wir hatten eine Gesellschaft, in der nach meinem Empfinden, im Großen und Ganzen und auch notgedrungen, Besitz weniger wichtig war als Beisammensein.« Zuversichtlich warnt sie vor dem Trugschluss, zu glauben, der Kapitalismus sei im Besitz von Ewigkeitsgarantien.

Die Ökonomin und Wirtschaftsministerin in der Regierung unter Hans Modrow 1989/90, Christa Luft, führende wie verantwortungsbewusste Akteurin in einer dramatischen Umbruchphase, erinnert sich, dass sie eher zufällig denn selbstbestimmt aus der Wissenschaft an die vorderste Front der Politik geworfen geworfen worden sei, »im Zwiespalt zwischen Pflichtgefühl und Respekt vor der Aufgabe und den Zumutungen für meine Familie«. Sie berichtet von der Unzufriedenheit in weiten Teilen der DDR-Bevölkerung mit der in Agonie erstarrten Partei- und Staatsführung und von der Euphorie des Aufbruchs mit Rückgriff auf Reformideen der 60er Jahre in der DDR. Und über das jähe Ende aller Bemühungen um einen erneuerten, demokratischen Sozialismus, nachdem am 6. Februar 1990 Bundeskanzler Helmut Kohl überraschend und für Wirtschaftsexperten in Ost und West schockierend die zeitnahe Einführung der Deutschen Mark als offizielles Zahlungsmittel auf dem Territorium der DDR ankündigte. Sie stellt zudem klar, dass die schon von der Modrow-Regierung ins Leben gerufene Treuhand nichts gemein hatte mit der »(Un)treuen Hand«, wie die später unter bundesdeutscher Führung stehende Institution auf Plakaten ostdeutscher Demonstranten gegen Massenabwicklung und Massenentlassungen genannt worden ist.

Die Philosophin Helga Hörz und DDR-Vertreterin in der UN-Frauenkommission, betont ihre damalige und heutige prinzipielle Haltung: »Frauenrechte sind Menschenrechte. Kein Mensch darf wegen seines Frau- oder Divers-Seins unterdrückt, beherrscht oder diskriminiert werden.« Gleich der emeritierten Hochschullehrerin, die Fortschritte der Emanzipation der Frau in der DDR gegenüber der alten Bundesrepublik würdigt (ohne Probleme, die es dennoch gab, etwa weiterbestehende patriarchalische Strukturen, zu verschweigen), verweist auch die Hallenser Medizinethikerin Viola Schubert-Lehnert auf Vorzüge des (materiell unbestreitbar teils bescheidener ausgestatteten) DDR-Gesundheitswesens gegenüber dem alt- wie auch neubundesrepublikanischen, wozu sie nicht nur die betriebliche Gesundheitsfürsorge im einstigen Arbeiter-und-Bauern-Staat zählt. Sie kritisiert insbesondere die Zwei-Klassen-Medizin sowie die maximale Gewinnorientierung im heutigen Gesundheitssystem, das aus ihrer Sicht einer gründlichen Reformierung bedarf.

Dies ist ein weiteres großes Plus des hier anzuzeigenden Bandes: Er blickt nicht nur zurück, sondern auch auf die Gegenwart - und nach vorn, in die Zukunft. Die bei Beherzigung historischer Erfahrungen und Anerkennung der Unzulänglichkeiten der Gesellschaftsordnung menschenfreundlicher, gerechter und friedlicher gestaltet werden kann. Es liegt einzig und allein in unserem Ermessen.

»Es gab Gewinner und Verlierer der Einheit in Ost und West, es gibt heute immer noch zwei Gesellschaften im vermeintlich vereinten Deutschland - aber vor allem gibt es einen gesamtdeutsch funktionierenden Kapitalismus neoliberalen Zuschnitts, der die Kluft zwischen Oben und Unten gesamtdeutsch praktiziert und immer mehr vertieft«, heißt es in der Einleitung der Herausgeber, des Ostberliner Historikers Stefan Bollinger und seines Westberliner Kollegen Reiner Zilkenat, der leider kurz vor Erscheinen des vorzüglichen Bandes verstorben ist. »Wir lernen in den letzten Jahren, dass Unzufriedenheit, Resignation, Wut sich nicht unbedingt progressiv gesellschaftsverändernd entladen, dass einfache Antworten, die Suche nach fremdländischen Sündenböcken nicht wenigen reichen, sich besser zu fühlen«, beklagen die beiden, sich in dieser Kritik eins wissend mit den hier zu Wort kommenden Historikern, Politologen, Philosophen, Pädagogen, Kulturwissenschaftlern und Gewerkschaftern.

Eröffnet wird der Band mit der Erinnerung an die internationalen Rahmenbedingungen und alliierten Interventionen, die zur Gründung zweier deutscher Staaten führten. Am Anfang stand das am 2. August 1945 von den »Großen Drei«, den Hauptsiegermächten, beschlossene Potsdamer Abkommen, das den Deutschen in allen Besatzungszonen Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Entzentralisierung und Entkartellisierung sowie Demokratisierung verordnete. Rolf Badstübner diskutiert das alliierte Deutschland-Projekt, deutsche Optionen und die Alternative zur Zweistaatlichkeit. Ein anderes Gesamtdeutschland war zunächst avisiert. Und es habe mit der Befreiung »eine geschichtliche Wende zu einem echten deutschen Neubeginn« gegeben, so Badstübner, der bei den vom deutsch-faschistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg unterschiedlich betroffenen Alliierten gleiche großzügige Gesten entdeckt: »Was Deutschland anbetrifft, wurde letztendlich nicht Gleiches mit Gleichem vergolten.«

Günter Benser erörtert Potenziale und Handlungsspielräume für eine antifaschistisch-demokratische Erneuerung in Ost- und Westdeutschland 1945 bis 1947, dominiert von Schuldgefühlen und dem Konsens »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg«. Selbst hinsichtlich Eingriffen in Eigentumsformen gab es anfangs viel Übereinstimmung. Dass dies aber dann auch zu ersten und ernsten sozialen Auseinandersetzungen führte, veranschaulicht Holger Czitrich-Stahl vom Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung in seiner Schilderung des zwar gescheiterten Kampfes um ein demokratisches Betriebsverfassungsgesetz 1950 bis 1952 in der jungen Bundesrepublik, der letztlich jedoch Wirkungen zeigte. Nicht Ludwig Erhard sei die »soziale Marktwirtschaft« zu verdanken, sondern dem Kampf der antagonistischen Klassen, zwischen Arbeit und Kapital. Der auch vielfach zu Unrecht gepriesene »Vater des Wirtschaftswunders« im Westen habe diese »lediglich als defensive Beschwichtigungsformel ins Spiel« gebracht: »Es war eine Vaterschaft wider Willen.«

Mit dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft beschäftigt sich auch Frank Deppe. Der Marburger Politikwissenschaftler erinnert an die Freiburger Schule des Ordoliberalismus. Es habe sich nicht schlicht um einen »Klassenkompromiss« gehandelt, sondern um die »Restauration der Kapitalmacht«, betont er und bemerkt abschließend, dass mit dem »Anschluss der neuen Bundesländer an den Geltungsbereich des Grundgesetzes« das Ziel des westdeutschen Kapitals erreicht worden sei: »Roll Back« des Sozialismus auf deutschem Boden.

Was dadurch vor allem den Menschen in Ostdeutschland, exakter: den sich von eigener Hände Arbeit nährenden, verlustig gegangen ist, wird deutlich in den Beiträgen von Siegfried Prokop und Jörg Roesler, die - unterfüttert mit reichen Fakten und statistischem Material - das Konzept der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik der DDR in den 70er und 80er Jahren sowie die gemeinsamen Herausforderungen etwa mit dem Ölpreisschock von 1973 erörtern. Roesler polemisiert wider landläufige Interpretationen, dass das ostdeutsche Wirtschafts- und damit auch Lebensniveau zwangsläufig permanent hinter dem westdeutschen wegen der fast vollständigen Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der planmäßigen Lenkung der Ökonomie habe zurückbleiben müssen. Dies sei einem vielfältigeren Ursachenkomplex zuzuschreiben.

Auch Georg Fülberth argumentiert beweiskräftig und pointiert gegen das bis heute dominierende Geschichtsbild, demzufolge die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Privateigentum, Marktwirtschaft und parlamentarisch-demokratischer Verfasstheit die überlegene Gesellschaftsordnung sei. Und weshalb angeblich die »Rückkehr« der DDR in einen bürgerlichen Nationalstaat 1990 letztlich nur eine Frage der Zeit gewesen sei. Andererseits widerspricht Fülberth der von manchen Gesellschaftswissenschaftlern aus der DDR, aber auch von einer Minderheit der Marxisten aus der alten Bundesrepublik geteilten Annahme, das Scheitern der ostdeutschen Alternative sei lediglich äußerem militärischen und ökonomischen Druck geschuldet. Diese Erklärung ist aus Sicht des Marburger Geschichtsprofessors »insofern hilflos, als sie nicht darlegen kann, weshalb die äußeren Feinde so stark waren, dass sie überlegen sein konnten«.

Es ist hier nicht der Platz, auf alle Beiträge einzugehen. Erwähnt sei noch der Aufsatz des Philosophen Herbert Hörz zum ökologischen Grundwiderspruch, der sich in den letzten Jahren verschärft hat und untrennbar mit den Widersprüchen des globalen Kapitalismus zu tun hat. Ansonsten gilt wie immer: Selber lesen mehrt die Erkenntnis, macht klug, selbstbewusst und selbstbestimmt.

Stefan Bollinger/Reiner Zilkenat (Hg.): Zweimal Deutschland. Soziale Politik in zwei deutschen Staaten - Herausforderungen, Gemeinsamkeiten, getrennte Wege. 520 S., br., 22 €.

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