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»Das Sozialgeld wird niemand erhalten«

Auch in der Coronakrise schafft Spaniens Bürokratie hohe Hürden für Hilfsbedürftige

  • Ralf Streck, San Sebastián
  • Lesedauer: 3 Min.

»Wir werden niemanden zurücklassen«, hatte der sozialdemokratische spanische Regierungschef Pedro Sánchez zu Beginn der Coronakrise erklärt. Für Lola Gabarre klingt das fünf Monate später wie blanker Hohn. »Ich sitze auf der Straße«, erklärt die 60-jährige Frau aus Madrid. »Ich habe kein Geld und weiß nicht wohin.« Sie hätte das sogenannte »Lebensnotwendige Mindesteinkommen« (IMV) in Höhe von 462 Euro dringend gebraucht, um ihr Zimmer bezahlen zu können, aus dem sie nun rausgeflogen ist. Sie hatte das IMV sofort am 15. Juni beantragt. Erst drei Monate nach Ausrufung des Alarmzustands hatte die Regierung das IMV verabschiedet. Damit wollte die Regierung der dramatischen Lage vieler armer Menschen begegnen, und bis zu 850 000 Familien unterstützen.

Gabarre gehört zu wenigen Menschen, die einen Bescheid erhalten haben. Die Frau aus Madrid, die ein Krebsleiden überlebt hat, bekam aber eine Absage. Zehn Tage nach ihrem Antrag hatte die Sozialversicherung noch Unterlagen nachgefordert. Danach hörte die Frau fast zwei Monate nichts mehr. Anrufe blieben erfolglos. Kürzlich half ein Freund und forschte für sie auf der zuständigen Webseite nach. »Abgelehnt«, stand dort. Der Grund ist, dass sie seit vier Jahren in einer Wohngemeinschaft gemeldet ist. Das gesamte Einkommen der »Wohneinheit« übersteigt die Obergrenze von maximal 1015 Euro. Der Nachweis, dort längst nicht mehr zu wohnen, stieß bei der Sozialversicherung auf taube Ohren. Dabei war sie zwischenzeitlich sogar vom Sozialamt für einen Monat provisorisch untergebracht.

Nach Angaben von Hilfsorganisationen, wie der »Stiftung Madrina«, ist das einer der zentralen Ablehnungsgründe. Die Hürden sind insgesamt hoch. Wer Hilfe beantragt, muss nachweisen, drei Jahre zuvor allein gelebt zu haben. Wer eine Zeit davon bei den Eltern oder in einem Studentenwohnheim lebte, bekommt nichts. Zudem muss man mindestens zwölf Monate sozialversicherungspflichtig gewesen sein. Zum Nachweis dienen Dokumente, die bei überlasteten Behörden beantragt werden müssen, was lange nur per Internet ging. Viele Bedürftige haben aber weder einen Computer, Scanner oder einen Internetanschluss, weshalb sich bei der Stiftung Marina lange Schlangen bilden.

»Viele gefährdete Personen bleiben außen vor«, erklärt Joaquín García, der Präsident der Vereinigung der Opfer der Arbeitslosigkeit. Für ihn ist auch unerklärlich, wieso man die Einnahmen des Vorjahres als Grundlage zur Gewährung macht. Wer zu den Eltern zurückzieht, weil er seine Miete nicht bezahlen kann oder nirgends gemeldet ist, sei praktisch draußen. Deshalb, rechnet er vor, seien bis zum 7. August nur 3966 von bis dahin mehr als einer halben Million Anträgen positiv beschieden worden. Dass nur gut 0,5 Prozent Bescheide positiv seien, ist »lächerlich« für ihn. »Es lässt einen vermuten, dass die Vorgänge wegen fehlendem Geld verzögert werden.«

Inzwischen gehen auch Gewerkschaften auf die Barrikaden, die der sozialdemokratischen Regierung nahe stehen. Pepe Álvarez, Generalsekretär der großen UGT, spricht von »Chaos« und fügt an: »Das IMV wird niemand erhalten.« Er spricht von nun mehr als 700 000 Anträgen, von denen bisher mit 30 000 »nur ein kleiner Teil beschieden wurde. Bekommen hat das Hilfsgeld tatsächlich bisher niemand«, fügte er an. Der UGT-Chef forderte von der Regierung, das »inhumane« Vorgehen sofort zu beenden, dass über das Fehlen des einen oder anderen Papiers debattiert wird, wenn fast eine Million Familien seit März keinerlei Einkommen mehr haben. Ultimativ drohte er mit Demonstrationen und Mobilisierungen.

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