»Feminismus ist heute Reizthema«

Brasiliens Abtreibungsgesetz wird immer restriktiver - auch durch den Einfluss evangelikaler Kräfte

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie und andere linke Politikerinnen haben unlängst einen Beschwerdebrief an die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet geschickt. Was ist los in Brasilien?

Die Regierung von Jair Bolsonaro hat vor wenigen Tagen eine Verordnung auf den Weg gebracht, die Mädchen und Frauen den Zugang zu Abtreibungen weiter erschweren soll. Es gibt drei Ausnahmen, in denen Frauen in Brasilien einen Schwangerschaftsabbruch ohne Kriminalisierung vornehmen lassen können: Im Falle einer Vergewaltigung, wenn der Fötus nicht lebensfähig ist und wenn das Leben der Mutter gefährdet ist. Die Verordnung sieht neue Kriterien bei Vergewaltigungsfällen vor: Ärzte müssen nun Beweise für eine Straftat an die Polizei weiterleiten. Außerdem müssen sie den Opfern ausführliche Fragen über das Verbrechen stellen, um herauszufinden ob Frauen die Wahrheit sagen. Der Arzt wird damit zum Ermittler gemacht. Natürlich ist es wichtig, eine Untersuchung durchzuführen, um die Vergewaltiger anklagen zu können. Aber ein Krankenhaus sollte ein sicherer Ort für die betroffenen Frauen sein. Zweifel und entwürdigende Fragen haben dort nichts zu suchen.

Sâmia Bomfim

Sâmia Bomfim ist Bundesabgeordnete für die Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) im brasilianischen Parlament und feministische Aktivistin. Niklas Franzen sprach mit Bomfim über die Verschärfung der Abtreibungsgesetze und die fundamentalistischen Rückschritte in Brasilien.

Welchen Gefahren drohen den Frauen mit der neuen Verordnung?

Sie schafft eine Situation der Scham. Außerdem könnte es passieren, dass ihre Aussagen in Zweifel gezogen werden und versucht wird, sie zu überzeugen, dass sie etwas falsch gemacht haben. Laut der Verordnung sollen Frauen außerdem gezwungen werden, sich Ultraschallbilder des Embryos anzusehen. All dies könnte sie davon abhalten, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen.

Ist die Verordnung schon rechtskräftig?

Sie ist bisher nur eine Orientierung des Gesundheitsministeriums an die öffentlichen Krankenhäuser. Wir als Opposition versuchen gerade, die Verordnung im Abgeordnetenhaus zu stoppen - gerade vor dem Hintergrund, was vor drei Wochen passiert ist.

Sie reden von dem Fall eines 10-jährigen Mädchens, das jahrelang von ihrem Onkel vergewaltigt wurde und die zunächst daran gehindert wurde, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, obwohl die Justiz den Eingriff gestattet hatte.

Das Personal in dem Krankenhaus im Bundesstaat Espírito Santo hatte sich geweigert, den Eingriff durchzuführen. Es gab wohl Gespräche zwischen dem Familienministerium, der Klinik und der Familie des Mädchens. Dort wurden ähnliche Dinge diskutiert, wie sie nun in der Verordnung stehen. Es zeichnet sich ab, dass die Familienministerin Damares Alves (die gleichzeitig evangelikale Pastorin und radikale Anti-Abtreibungsaktivistin ist, Anm. d. Red.) dies als neue Praxis etablieren will. Ihr Ziel: Die bereits strenge Gesetzgebung noch weiter zu verschärfen.

Der Fall des Mädchens hat hohe Welle geschlagen, auch im Ausland. Warum?

Er war symbolisch, aber wahrlich kein Einzelfall. Mehr als die Hälfte aller Opfer von sexualisierter Gewalt sind Minderjährige. Die meisten schwanger gewordenen Opfer entscheiden sich, die Schwangerschaft nicht abzubrechen. Nur zehn Prozent der Mädchen tun das. Das liegt an fehlenden Informationen, schlechter Gesundheitsausstattung und daran, dass nur wenige Krankenhäuser überhaupt Eingriffe vornehmen. Dieser jüngste Fall wurde vor allem wegen den fundamentalistischen Protesten so breit diskutiert.

Rechte Politiker*innen, evangelikale Pastor*innen und katholische Gruppen organisierten Proteste vor dem Krankenhaus, in dem das Mädchen schließlich die Abtreibung durchführen konnte. Sie beschimpften Ärzt*innen als »Mörder« und versuchten sogar das Krankenhaus zu stürmen.

Die Fundamentalisten haben es geschafft, durch diesen Fall Aufmerksamkeit auf ihre Agenda zu lenken. Neben dem Protest vor dem Krankenhaus haben sie den medizinischen Bericht des Mädchens veröffentlicht und auf verschiedene Wege versucht, sie von ihrer Entscheidung abzuhalten.

Familienministerin Alves kritisierte auf Facebook die Entscheidung der Justiz, die Abtreibung zuzulassen. Die rechtsradikale Aktivistin und Bolsonaro-Unterstützerin Sara Winter veröffentlichte gar den Namen und die Adresse des Mädchens. Würden Sie der Regierung Mitschuld an der Eskalation vor dem Krankenhaus geben?

Auf jeden Fall. Jene Sara Winter arbeitete eine Zeit lang im Familienministerium. Sie hat mit der Veröffentlichung eine Straftat begangen, denn eigentlich hätte der Fall eines minderjährigen Mädchens nicht öffentlich verhandelt werden dürfen. Wir haben Frau Winter nun angezeigt. Und wir wollen auch herausfinden, welche Rolle Ministerin Alves in diesem Fall spielte.

Es scheint als hätte sich die Debatte über Schwangerschaftsabbrüche in den letzten Wochen zugespitzt. Sehen Sie das auch so?

Ja. Aber man muss dazu sagen, dass es bereits seit dem Amtsantritt der Regierung viele Rückschritte zu verzeichnen gibt. Praktisch das ganze Team für Frauengesundheit im Gesundheitsministerium wurde ausgetauscht. Viele dieser Personen waren renommierte Expertinnen und arbeiteten dort seit Jahrzehnten. Dieser Umbau ist Teil der fundamentalistischen Agenda der Regierung. Aber die jüngsten Angriffe auf das Recht auf Abtreibung haben auch mit den bevorstehenden Wahlen zu tun (im Oktober finden in Brasilien Regionalwahlen statt, Anm. d. Red.). Feminismus ist heute Reizthema in Brasilien, mit dem man hervorragend polarisieren kann.

Lässt sich das auch auf den wachsenden Einfluss der evangelikalen, oft strikt antifeministischen Kirchen zurückführen? Laut einer Studie werden die Evangelikalen im Jahr 2032 die Mehrheit der Bevölkerung stellen.

Auf jeden Fall. Das ist die Wählerbasis der Bolsonaro-Regierung. Sie haben immer mehr politischen Einfluss und sind bei vielen Entscheidungen und Stellenbesetzungen nicht mehr wegzudenken.

Feminist*innen kämpfen für eine komplette Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Umfragen zeigen jedoch, dass 75 Prozent der brasilianischen Bevölkerung gegen Abtreibungen ist. Macht das Reformen in naher Zukunft undenkbar?

Es ist keine leichte Debatte, aber sie ist dringend notwendig. Der Glauben und die Ideologie werden in vielen Fällen höher gestellt als das Recht von Frauen auf ihren eigenen Körper. Wir versuchen das Thema als Gesundheitsdebatte zu betrachten, denn darum geht es ja: 500 000 Frauen führen jährlich heimliche Abtreibungen durch. Und wenn man sich anschaut, wer dabei stirbt, zeigt sich ein klares Profil: arme, Schwarze Frauen. Je ärmer eine Frau ist, desto gefährlicher ist es für sie, abzutreiben. Wohlhabende, meist weiße Frauen führen Abtreibungen in illegalen Kliniken durch. Arme Frauen tun dies unter großen Risiken Zuhause.

Wie wird die Debatte innerhalb der Linken geführt? Mir scheint es als hätten viele Linke Angst vor kontroverseren Themen wie der Entkriminalisierung von Drogen, Gefängnispolitik - oder eben dem Recht auf Abtreibung.

Die feministischen Stimmen in der Linken werden immer lauter und versuchen, die Debatte voranzutreiben. Aber es stimmt, dass das Thema Abtreibung noch keinen besonders hohen Stellenwert in vielen linken Organisationen und Parteien hat.

Warum?

Ich glaube, viele haben wegen des politischen Risikos Angst, da das Thema in der Gesellschaft so umstritten ist.

Sehen Sie die Gefahr, dass Brasilien sich in einen fundamentalistischen, nicht-säkularen Staat verwandeln könnte?

Formell glaube ich nicht, dass das passiert. Aber in der Praxis geschieht dies bereits. Fundamentalistische Gruppen haben den Staat seit dem Amtsantritt von Bolsonaro infiltriert. Im Kongress gibt es eine christliche, überparteiliche Vereinigung, die sogenannte Bibel-Fraktion, die schon lange sehr großen Einfluss hat - bereits seit den Zeiten der linken Regierungen. Sie haben es geschafft, viele Initiativen zu Abtreibungen oder LGBT-Themen zu blockieren. Derzeit ist die Gefahr, die von diesen Gruppen ausgeht, sehr groß, da die Regierung zu 100 Prozent auf ihrer Seite steht.

Sie sind eine der wichtigsten feministischen Stimmen in Brasilien. Wie beeinflusst der fundamentalistische Backlash ihre Arbeit als Abgeordnete?

Ich bin eine Antagonistin dieser Gruppen. Bereits vor meinem Amt als Abgeordnete war ich feministische Aktivistin. In den sozialen Medien erhalte ich Morddrohungen, es werden Fake-News verbreitet, ich habe Bodyguards an meiner Seite. Aber das geht mir nicht sonderlich nahe, und Angst habe ich nicht. Man gewöhnt sich daran. Aber es kostet viel Arbeit - denn ich will den Rechten nicht den Diskurs überlassen.

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