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Zeit für eine neue Erzählung

Kanada ist Ehrengast der Buchmesse. Ein Blick auf die Literaturlandschaft jenseits des Großen Teichs

  • Michael Götting
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Hörsaal der Ryerson Universität in Toronto ist gefüllt mit mehreren Hundert überwiegend Schwarzen Menschen. Sie haben sich erhoben, um einer Frau am Rednerpult zu applaudieren - und der Applaus hält an, fünf Minuten lang. Das war im November 2016. Die jährliche »Nelson Mandela Lecture« der Ryerson Universität, der Hochschule mit den meisten Schwarzen Studierenden und Lehrenden in der Stadt, stand ganz im Zeichen der Social-Justice-Woche: Denn einige Monate zuvor hatten die Aktivist*innen von Black-Lives-Matter in Toronto für Aufsehen gesorgt, als sie die Pride Parade eine halbe Stunde lang zum Stillstand gebracht und empörten Pride-Besucher*innen ein entschlossenes »We are not moving!« entgegengesetzt hatten. Die Reaktion der Öffentlichkeit auf diese Art des Protests im Juni war so überwältigend, dass eine der Black-Lives-Matter-Aktivist*innen, die durch ihre Rede bei der Blockade ins Rampenlicht geraten war, für einige Zeit untertauchte.

Fünf Monate später: Dionne Brand, eine der einflussreichsten Autorinnen Kanadas und Schwarze Kanadierin, nimmt im Hörsaal den stürmischen Applaus des Publikums entgegen. Sie hat die Anwesenden - die erste oder zweite Generation nach ihrer eigenen - mit eindrücklichen Worten in ihrem Kampf bestärkt und deutlich gemacht, dass dieser eine neue Welt ermöglichen kann. Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin, Dichterin und Filmemacherin wurde bekannt durch Werke wie ihre Gedichtsammlung »Land to Light on«, dem Roman »At the Full and Change of the Moon« oder »A Map to the Door of No Return: Notes to Belonging«, einem autobiografischen Essay, in dem sie eine transatlantische, afrodiasporische Identität beschreibt, deren Ausgangspunkt Pforten ohne Rückkehr sind - den Orten auf dem afrikanischen Kontinent, durch die die Versklavten Afrika in Richtung Amerika, Europa, die Karibischen Inseln verlassen haben. Im Jahr 2017 wurde Brand in den Order of Canada aufgenommen, eine der höchsten Auszeichnungen, die das Land vergibt.

Literatur im Allgemeinen, und gerade auch die Literatur afrodiasporischer Menschen, muss dem Narrativ der jeweiligen Kultur, des jeweiligen Landes, dem sie entspringt oder das sie thematisiert, begegnen. Die kanadische Erzählung, die (fast) die ganze Welt kennt, ist die eines Einwanderungslandes, das den Multikulturalismus entwickelt und erfolgreich umgesetzt hat. Es ist eine Erzählung, die auch sehr stark darauf beruht, der gute Gegenpol zum Nachbarn im Süden, den USA, zu sein: friedlich, bescheiden, keine Amokläufe, keine rassistischen Exzesse und ohne den Makel der Sklaverei im Gepäck. Mit zunehmender Forschung auf diesem Gebiet und durch die Beharrlichkeit vor allem Schwarzer Kanadier*innen zeigt sich allerdings, dass zumindest Letzteres nicht stimmt.

Afua Cooper, Autorin, Historikerin und Dichterin, ebenso wie Dionne Brand von einer der karibischen Inseln nach Kanada eingewandert, hat in ihrem Buch »The Hanging of Angélique - The Untold Story of Canadian Slavery and the Burning of Montréal« die Geschichte der Sklaverei in Kanada recherchiert. In dem 2006 erschienenen Bestseller schildert sie das Leben von Marie-Joseph Angélique, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Versklavte im französischen Teil Kanadas lebt, der Brandstiftung beschuldigt und zum Tode verurteilt wird. Coopers Buch ist eines der eindrucksvollsten Werke, das die Sklaverei in Kanada belegt und die Biografien sowohl der Versklavten als auch der Sklavenhalter*innen dokumentiert.

Eines der großen Themen der historischen, literarischen und kulturellen Arbeit Schwarzer Kanadier*innen, ist somit auch das Auffinden und Rekonstruieren der Lebensumstände der Versklavten in Kanada - anhand von Dokumenten, die tief vergraben in den Archiven liegen: Überlieferte Suchanzeigen entlaufener Sklav*innen, die Kauf- und Verkaufsdokumente von Sklav*innenauktionen und auch die Bestrafungen versklavter Menschen, die Widerstand leisteten. Was zutage kommt, korrigiert ein Narrativ, das Kanada lange Zeit ausschließlich als das sichere Ziel der Underground Railroad und Zufluchtsort der Versklavten aus den USA gezeigt hat.

Die Geschichte der Afrokanadier*innen vor der großen Einwanderung aus den Karibischen Inseln seit den 1960er Jahren gelangt erst in den Fokus der Öffentlichkeit durch ein Werk, das dem kanadischen Mehrheitsnarrativ ein wenig näher steht: Lawrence Hills Roman, der zuerst 2007 unter dem Titel »Someone Knows My Name« in den USA veröffentlicht wurde und acht Jahre später als TV-Serie in Kanada und den USA zu sehen war. Er schildert die Geschichte von Aminata Diallo, die als Versklavte in die USA kommt und am am Ende der Amerikanischen Revolution zusammen mit britischen Loyalist*innen an die kanadische Ostküste gelangt - eine Migrationsbewegung, aus der später Africville entsteht, der Ort am Rande der kanadischen Ostküstenstadt Halifax, der im frühen 19. Jahrhundert die erste Siedlung freier Schwarzer Menschen außerhalb Afrikas wird. Einige Jahre nach ihrer Ankunft an der kanadischen Ostküste besteigt Aminata Diallo erneut ein Schiff und segelt gemeinsam mit einigen Hundert anderen Menschen afrikanischer Herkunft, die mit den Getreuen des britischen Empires nach Kanada kamen, nach Sierra Leone, an die afrikanische Westküste, wo sie die Stadt Freetown gründen.

Hills Roman basiert auf historischen Fakten, die im sogenannten »Book of Negroes«, dem Titel, unter dem Hills Roman später bekannt wird, dokumentiert sind. Das Dokument, erhalten in den Archiven in Washington, D.C., und im englischen Kew, enthält Namen und ausführliche Informationen über Aussehen, Herkunft und Lebensumstände der Schwarzen Reisenden, die im Jahr 1783 New York in Richtung der kanadischen Ostküste verließen. Vor allem aber das Schicksal von Africville, dem Ort, an dem die Eingewanderten schließlich ihre eigene Gemeinde gründen, dient heute als Beleg dafür, dass rassistische Diskriminierung auch in Kanada Tradition hat: Mehr als hundert Jahre währende Vernachlässigung und schließlich die Zerstörung des Orts durch ansässige Behörden in den 1960er-Jahren markieren den Umstand, den Schwarze Kanadier*innen noch heute anprangern: Rassismus, der alltäglich und der strukturell ist.

Schwarze Intellektuelle, Journalist*innen, Autor*innen und Dichter*innen nehmen diese Umstände in ihren Werken auf, zeigen anti-Schwarzen Rassismus in Kanada auf, kämpfen dagegen an, analysieren ihn und entwickeln Strategien. Da ist der Autor und Journalist Desmond Cole, der mit seinem kürzlich erschienen Buch »The Skin We're In - A Year of Black Resistance and Power« auf anti-Schwarze Unterdrückung in Kanada hinweist; da ist der Universitätsprofessor Rinaldo Walcott, der 1997 das bahnbrechende Werk »Black Like Who - Writing Black Canada«, eine Studie über die Kultur Schwarzer Menschen im Land herausbrachte und der erst im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Ryerson-Professorin Idil Abdillahi das Buch »Black Life - Post BLM and the Struggle for Freedom« veröffentlichte.

Da sind die Generationen von Dub-Poet*innen um Lillian Allen, d'bi young anitafrika oder eben auch Afua Cooper, denen es seit den frühen 1980er Jahren gelungen ist, die Perspektiven und Lebenserfahrungen Schwarzer Kanadier*innen durch ihre Texte, Dub und Reaggae zu transportieren. Da ist M. NourbeSe Philip, die kanadische Dichterin, Essayistin, Prosaistin und Theaterautorin, die bekannt ist für ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit und die dieses Jahr mit dem PEN/Nabokov-Award ausgezeichnet wurde.

Die Literatur und das kulturelle Schaffen dieser Schwarzen Kanadier*innen ist so vielfältig und reich wie ihre Protagonist*innen selbst: Celi Foster dokumentiert mit seinem Buch »They Call me George« das Leben der Schwarzen Zugbegleiter in Kanada zu Beginn des 20. Jahrhunderts; Esi Edugyan, deren Eltern aus Ghana einwanderten und die im Westen Kanadas, in Calgary, aufwächst, schreibt in ihrem Debütroman »Half Blood Blues«, für den sie den Giller Prize erhielt, über einen Afrodeutschen und seine US-amerikanischen Musikerkolleg*innen, die den Nazifaschismus in Europa überleben. Und dann ist da auch immer wieder Dionne Brand, die mit ihren Werken für Aufsehen sorgt, 2018 mit ihrem Gedichtband »The Blue Clerk« und dem Roman »Thesis«. Brand spürt die nächste Generation von Dichter*innen auf und fördert sie und ermutigt das Streben Schwarzer Kanadier*innen nach sozialer Gerechtigkeit.

Das Jahr 2020 erinnert nun wieder an 2016. Auch an den Augenblick, als sich das Publikum im Hörsaal der Ryerson Universität erhob, um einer ihrer bedeutendsten Autorinnen zu applaudieren. Im Juli 2020 veröffentlichte Brand einen Essay über Rassismus, Kapitalismus und die Coronavirus-Pandemie in einer Tageszeitung in Toronto: »Everything is up in the air, all narratives for the moment have been blown open ...«, beschreibt sie darin die aktuelle Situation: Wenn alles in der Schwebe ist und die alten Narrative aufgesprengt, dann ist diese Zeit vielleicht die richtige für eine Literatur, die zur Gestaltung der neuen Welt beiträgt.

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