»Etwas Vergleichbares hat es im Westen nicht gegeben«

Klassisch, modern, schwul - in der DDR: In Berlin werden Arbeiten von Jürgen Wittdorf gezeigt

  • Ralf Stabel
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie aus einer anderen Zeit und doch zeitlos wirken die Arbeiten des Künstlers Jürgen Wittdorf», schreibt Christine Heidemann im Katalog zur Ausstellung mit dem wunderbar ambivalenten Titel «Lieblinge». Kuratiert von Stephan Koal und in Petersburger Hängung, so wie in Wittdorfs Wohnung, sind im Kunstverein Ost (KVOST) in Berlin-Mitte über 100 Arbeiten zu sehen: Holz- und Linolschnitte, Zeichnungen und Keramiken.

Dass Wittdorfs Arbeiten nun wieder der Öffentlichkeit zugänglich sind, ist Jan Linkersdorff von der Studio Galerie Berlin zu verdanken. Er fand sie bei einer Auktion, keiner Kunstauktion, sondern eher eine «Verramschung» von Hausrat. Er erwarb über 200 Bilder und 60 Keramikteller seines ehemaligen Zeichenlehrers. Der Titel «Lieblinge» rührt daher, dass sich Jürgen Wittdorf von gerade diesen Werken zeitlebens nicht zu trennen vermochte. Ergänzt werden seine ganz persönlichen Lieblinge durch die Leihgaben des Schwulen Museums und Werke aus dem «Zyklus für die Jugend», der 1963 in 10 000er Auflage erschien.

Berlins Kultursenator Klaus Lederer zeigte sich zur Eröffnung sichtlich gerührt, berührt. Es sprach nicht nur künstlerisch-ästhetische Fragen an, sondern auch Schwulsein in der DDR. Der Linkspolitiker hob hervor, dass Homosexualität im ostdeutschen Staat, der oft als «Unrechtsstaat» diffamiert wird, seit 1968 straffrei war - und damit erheblich früher als in der Bundesrepublik.

Dass Jürgen Wittdorf mit Vorliebe junge Männer darstellte, fällt beim Betrachten seiner Werke sofort ins Auge. Heißt das aber nun, dass er als schwuler Künstler in der DDR so selbstverständlich wie gleichberechtigt arbeiten konnte? Die von ihm dargestellten Jugendlichen, junge Männer zumeist, aber auch junge Frauen, kennzeichnet ein Habitus, den es wohl im Hier und Heute so nicht mehr gibt: Diese Jungen sind sich ihrer selbst und ihrer erotischen Ausstrahlung möglicherweise bewusst, stellen diese aber nicht aktiv aus. Diese Unschuld, dieses Unverstellte sollen Modefotografen aus dem Westen nach der Wende in den Gesichtern von unverbrauchten Ostdeutschen gesucht und gefunden haben.

Wittdorf konnte seine Zuneigung zum «Objekt» und seine Liebe zur Kunst ganz offensichtlich gut unter einen Hut bringen. Der 1932 in Karlsruhe Geborene und in Königsberg (heute Kaliningrad) Aufgewachsene studierte in den 1950er Jahren an der Hochschule für Grafik und Buchdruck in Leipzig, wird später Meisterschüler bei Lea Grundig an der Akademie der Künste in Berlin. Seine künstlerische Freiheit und das Abwehren von Nachfragen zu seinen doch recht eindeutigen Motiven hat sich der «Genosse Wittdorf» wohl gleich nach dem Studium 1957 mit 25 Jahren durch den Eintritt in die SED gesichert. Zur Keramikgestaltung gelangt Wittdorf über Aufträge, im öffentlichen Raum Wände zu gestalten. Auch Tiere hält er mit großer Akribie fest und erfasst damit deren Wesen. Zu ihnen kommt er während seiner Studienzeit, als er Stammgast im Leipziger Zoo ist. Die Arbeiten von Wittdorf also auf sein Schwulsein zu beschränken, greift zu kurz.

Doch wie passt sein Werk in den bis 1989 währenden Kanon des sozialistischen Realismus? Bekanntlich sollte die Welt nicht so dargestellt werden, wie sie war, sondern so, wie man sie sich in der Zukunft erträumte. Der überwiegende Teil der Arbeiten trägt keinen Titel, der bei einer Interpretation behilflich sein würde. Die von ihm gezeichneten Sportler in Karl-Marx-Stadt aus dem Zyklus «Jugend und Sport» von 1964 haben ihn mit ihrer physischen Präsenz ebenso fasziniert wie Tänzer, mit denen er in Leipzig und Berlin auch persönlich befreundet war. Und diese Faszination für Jugend, Schönheit und Zukunft scheint systemübergreifend und allgegenwärtig.

Zeigen Wittdorfs Bilder aus der DDR etwas vom sozialistischen Alltag, sozialistischer Realität? Ja und Nein. Natürlich stehen die beiden von ihm porträtierten Grenzsoldaten auch für das Land, das sie verpflichtet hat. Aber die Jugendlichen, die Sportler, die Arbeiter - was ist an ihnen typisch sozialistisch, auch realistisch? Den Dargestellten im «Zyklus für die Jugend» attestiert der Katalog eine «gewisse Lässigkeit». Das ist vielleicht der Ausdruck des damaligen selbstverständlichen Selbstbewusstseins.

Bis zur Wende ging es Wittdorf offensichtlich gut im Schutze der DDR. Nach der Wende hätte er sich irgendwie «vermarkten» müssen. Vermutlich war ihm - zu Recht - allein dieses Wort ein Graus. Nach dem Mauerfall entdeckt er die schwule Szene von Westberlin. Da ist gerade Leder «in» - und das sieht man dann auch auf seinen Bildern. In den 1990er-Jahren wird das Schwule Museum in Berlin auf ihn aufmerksam, widmet ihm Ausstellungen und kauft einige seiner Werke an.

Ausstellungsbesucher Armin Stübe hatte als Kunstlehrer bereits 2006 in der Staatlichen Ballettschule Berlin eine der monatlich wechselnden Ausstellungen mit Wittdorfs Grafiken kuratiert. Was dessen Arbeiten heute noch und wieder interessant macht, fasst er treffend wie folgt zusammen: «Seine Inhalte wie Jugend, Freizeit, Liebe, zwischenmenschliche Beziehungen überhaupt, die ja nicht an Gesellschaftsordnungen gebunden sind, haben mich seit Jahrzehnten begeistert. Wie Wittdorfs Bilder von den Schüler*innen aufgenommen wurden, war einzigartig, weil zutiefst humanistisch.»

2018 stirbt Wittdorf, der DDR-Bürgern durch die hohen Auflagen seiner Drucke und seine langjährige Tätigkeit als Kunstlehrer im Haus des Lehrers sowie im Haus der jungen Talente bekannt war. Im vereinten Deutschland ist er jedoch schnell vergessen. Der Nachlass ist wie geschaffen für den Kunstverein OST, zeigt er doch eine ganz besondere Seite der DDR-Kunst- und Gesellschaftsgeschichte: Wittdorf war klassisch und modern - und er hat ein Stück Leben festgehalten, an das sich viele, die damals jung waren, beim Betrachten der Bilder gern erinnern werden. Und alle anderen könnten sie endlich kennen und schätzen lernen. Der (westdeutsche) Kunsthistoriker und Mitbegründer des Schwulen Museums Andreas Sternweiler kommentiert den Umgang von Jürgen Wittdorf mit Sexualität: «Etwas Vergleichbares hatte es im Westen nicht gegeben.»

Jürgen Wittdorf: Lieblinge. Arbeiten von 1952 bis 2003. KVOST, Berlin, Leipziger St. 47/Eingang Jerusalemer Str., bis 14. 11. , www.kvost.de

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