Psychiater schlagen Alarm

Die Covid-19-Pandemie bringt zusätzliche Risiken für Menschen mit seelischen Erkrankungen

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

»Stellen Sie sich eine Patientin mit einer Angsterkrankung vor: Sie geht jetzt nur noch mit einem Schutzanzug, mit Handschuhen und Maske einkaufen. Sie bewegt den Einkaufswagen nicht mit dem vorgesehenen Griff, sondern verkehrt herum. Sie geht nur einkaufen, wenn sie sicher ist, dass der Laden fast leer ist. Zu Hause desinfiziert sie alle Einkäufe. Sie informiert sich stundenlang im Internet und mit Nachfragen auch bei Instituten, wie sich zum Beispiel Brot desinfizieren lässt. Sie schläft sehr schlecht, ist stark angespannt. Arbeitsfähig ist sie auf keinen Fall.« Diese Beschreibung gibt Sabine Köhler, Vorsitzende des Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte. Die Psychiaterin aus Jena bemerkt wie viele ihrer Berufskollegen, dass sich bei bereits diagnostizierten Patienten die Symptome und die Belastung durch die Corona-Pandemie verstärken.

Die Praxen der niedergelassenen Fachärzte und Psychotherapeuten waren schon zuvor voll. Seit Einrichtung der Terminservicestellen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen erzielt die Berufsgruppe die höchsten Nachfragen unter allen Fachärzten. Köhler ist nicht die Einzige, die zum Beispiel bei Depressionen für eine schnelle und niedrigschwellige Behandlung wirbt. Werde zu spät therapiert, verstärkten sich die Symptome - bis hin zur Suizidalität. Lange Krankschreibungen und ein früher Renteneintritt seien andere mögliche Folgen. Zusätzlich erschwert wird die Versorgung aktuell dadurch, dass Kliniken verstärkt psychiatrische Betten »schließen«, um Ressourcen für die Versorgung von Corona-Patienten zu gewinnen.

»Nur die dezentrale ambulante Behandlung konnte vielen Patienten auch nach Schließung von Klinikbetten die notwendige Hilfe und Stabilität bieten«, erklärt Köhler, die zugleich Vorsitzende des Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte ist. Die rund 24 000 Fachärzte und Fachärztinnen in diesem Bereich arbeiten seit Beginn der Pandemie im Schnitt eine Stunde pro Tag mehr. Wie Kollegen von anderen psychiatrischen und psychotherapeutischen Fachverbänden fordert Köhler die finanzielle Absicherung auch der eher kürzeren ambulanten Behandlungstermine, die als effektive Intervention etwa bei Depressionen gelten. Auf das Dilemma bei den vorgesehenen Entgelten weist auch der Neurologe Uwe Meier aus Grevenbroich in Nordrhein-Westfalen hin: »Es werden weniger als zehn Minuten Gespräch für einen Patienten im Monat bezahlt. Wie sollen wir damit unseren Patienten aus der Krise helfen?«

Die Patienten bräuchten eine niedrigschwellige Behandlung mit einem ärztlichen Gespräch, gleichzeitig seien diese Zehn-Minuten-Interventionen zu schlecht vergütet und nur begrenzt abrechnungsfähig, kritisierte Meier. Psychiaterin Köhler fügt hinzu, dass sowohl Diagnose als auch Planung der Therapie im Gespräch mit den Patienten erfolgen müssen. Das werde bei den aktuellen Vergütungsmodellen nicht berücksichtigt.

Verschärft wird die aktuelle Situation noch dadurch, dass Beratungsstellen für psychisch Kranke ihre Angebote nicht wie üblich aufrechterhalten können. Auch andere Kontakte, etwa im Kultur- und Sportbereich, fallen weg. Viele der Betroffenen leben allein.

Zu den Menschen, deren psychische Störungen bereits bekannt sind, kommen Covid-19-Patienten hinzu, die im Verlauf dieser Infektion Hirnschädigungen erleiden sowie mit psychischen Langzeitfolgen zu kämpfen haben. Sie stehen dann ebenfalls einem völlig überlasteten ambulanten Versorgungssystem gegenüber.

Zugleich haben psychisch Kranke eine noch ungünstigere Prognose bei einer Ansteckung mit Sars-CoV-2. Das wurde in Studien aus Frankreich und den USA festgestellt. So lag nach einer französischen Untersuchung die Sterberate bei Schizophrenie-Kranken mit einer Sars-CoV-2-Infektion 30 Prozent höher als bei Menschen ohne diese Vorerkrankung. In den USA wurde auch ein höheres Ansteckungsrisiko mit dem Coronavirus bei Menschen mit psychischen Störungen beobachtet. Das wird mit häufig schlechten Lebensverhältnissen und einem geringen Gesundheitsbewusstsein in Zusammenhang gebracht. In Frankreich stellten Forscher fest, dass Psychosekranke zugleich mehr Covid-19-Risikofaktoren aufweisen, darunter Rauchen, krankhaftes Übergewicht und Diabetes (Letzteres häufig auch als langfristige Nebenwirkung der psychiatrischen Medikation).

Folgen hat die Pandemie zusätzlich auch für die Nichtinfizierten, hebt Neurologe Meier hervor. Er sieht wachsende Angst, Sorgen und Verunsicherung in der Bevölkerung. Aus Langzeituntersuchungen früherer Epi- oder Pandemien ist zudem bekannt, dass psychische Erkrankungen nach überstandener Akutgefahr in der Bevölkerung zunehmen. Die Praxen würden daher auch weiterhin am Limit arbeiten, befürchten die Fachärzte.

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