»Wir haben ein sehr eigentümliches Verhältnis zur Sprache«

Najat El Hachmi ist erst mit Tamazight aufgewachsen, hat dann Katalanisch gelernt und erst danach Spanisch. Aus Unsicherheit im Umgang mit Sprache wurde Leidenschaft

  • Isabella Caldart
  • Lesedauer: 7 Min.

Nach mehr als fünf Wochen darf Ende November die Gastronomie in Katalonien wieder öffnen, entsprechend lebhaft geht es in Barcelona zu. Die katalanisch-marokkanische Autorin Najat El Hachmi wohnt in dem Viertel Gràcia, das sich selbst zu Tourismuszeiten seinen dörflichen Charme bewahrt. Sie schlägt die Terrasse eines ihrer Stammcafés vor, um über den Roman »Eine fremde Tochter« zu sprechen, der kürzlich auf Deutsch veröffentlicht wurde.

Auf Katalanisch ist Ihr Roman 2015 erschienen. Wie ist es, jetzt über einen Text zu sprechen, den Sie vor mehr als fünf Jahren verfasst haben?

Wenn man gerade veröffentlicht hat, fühlt man sich sehr exponiert. Der Abstand hilft. Es ist schon merkwürdig - das, was du geschrieben hast, bleibt immer da, während du selbst dich veränderst, weiterentwickelst.

Das Thema Sprache ist eines der wichtigsten Motive des Buchs. Mir ist ein bestimmtes Detail besonders ins Auge gesprungen: Die Protagonistin sagt »die Sprache der Mutter« statt »Muttersprache«, womit sie eine deutliche Distanz zwischen sich und der Mutter und eben ihrer Sprache schafft.

In dem Roman geht es um das Verhältnis von Tochter und Mutter, aber auch um das Verhältnis der Tochter zur Sprache ihrer Mutter sowie zum Wertesystem, der Kultur und allem, was mit ihrer Herkunft zusammenhängt. Ich glaube, dass wir Kinder der Immigration ein eigentümliches Verhältnis zur Sprache haben. Wir haben sie von unseren Eltern gelernt und sollten sie deswegen am natürlichsten verwenden. Aber durch die Migration ändert sich das. Zu Hause wird eine andere Sprache gesprochen als draußen. Dadurch entwickelt sich eine Distanz - anders als beim Muttersprachler. Gerade Jugendliche benutzen mit Freunden ein ganz anderes Register als in der Familie. In meiner Herkunftskultur gibt es ein großes Tabu um das Thema Sexualität. Mit den Eltern kann man darüber nicht sprechen und hat damit ein ganzes linguistisches Terrain, das unbenutzt bleibt. Dazu kommt, dass Tamazight eine orale Sprache ist, die kaum niedergeschrieben wurde. So kennt sie fast niemand, fast wie eine Geheimsprache.

Das sagt auch die Protagonistin in Ihrem Buch: Es gibt kein Wörterbuch für die Sprache ihrer Mutter. Warum ist es ein Problem, nicht die passenden Begriffe in einer anderen Sprache zu finden?

Sobald du dich zwischen zwei Orten befindest, suchst du nach Ähnlichkeiten, die beide miteinander verbinden. Wie heißt das Wort, das meine Mutter verwendet, in der anderen Sprache? Das ist eine frühe Erfahrung, die sowohl Kinder der Immigration machen als auch alle Menschen, die sich in einem bilingualen Kontext befinden: Es gibt Unterschiede. In der Sprache meiner Mutter sind »blau« und »grün« das gleiche Wort. Aber dieses Gefühl der Unsicherheit kann sich zu einer Leidenschaft entwickeln, wenn man begreift, wie Sprachen aufgebaut sind, die Strukturen, die es gibt. Man beginnt, sich mit acht, neun, zehn Jahren diese Fragen zu stellen. Ich jedenfalls habe darüber nachgedacht.

Macht es einen Unterschied, wenn die Gesellschaft nicht nur eine, sondern zwei andere Sprachen spricht, wie hier Spanisch und Katalanisch?

Wir haben Katalanisch als erste Sprache hier gelernt und später gemerkt, dass es eine weitere zu erlernen galt. Das erinnere ich nicht als Konflikt, es war einfach so. Aber außerhalb des schulischen Kontexts gibt es eine sehr andere Lesart der Tatsache, dass wir, die migriert sind, Katalanisch sprechen. Und als Teil dieser Gesellschaft auch das Recht beanspruchen, uns katalanisch zu nennen. Das wird teils von außen instrumentalisiert: Da wird behauptet, wir beharrten auf diesem Anspruch, weil Katalonien besser sei. Oder dass uns der Nationalismus verführt habe, nur weil wir Katalanen sein wollen. Diese Lesart ist politisch und hat nichts mit der Erfahrung der Einzelperson zu tun. Für mich ist das teilweise problematisch. Es vereinfacht die Realität.

Und warum verfassen Sie Ihre Texte auf Katalanisch?

Weil das die erste Sprache ist, auf der ich zu Lesen und Schreiben gelernt habe. Als ich außerdem auf Mercè Rodoreda (die bekannteste katalanische Autorin, Anm. d. Red.) stieß, fühlte ich eine viel tiefere Verbindung zu ihren Texten als zu allem davor. Sie zu lesen war nicht nur Unterhaltung, sondern eine künstlerische Erfahrung. Und das prägt sehr.

Im Roman werden öfter Autor*innen erwähnt, vor allem deutsche Philosophen und katalanische Schriftstellerinnen. Welche Bedeutung hat Literatur für Sie?

Sie ist ein Ort, um eine Welt außerhalb der Grenzen, die wir in unserem Leben haben, zu entdecken. Da ich eine Frau bin, sind diese Beschränkungen noch größer, weil ich einer ganzen Reihe von Normen folgen musste, die mir zu Hause auferlegt wurden. Ich durfte wenig raus, nur zur Schule oder für Erledigungen, während meine Brüder viel mehr Freiheiten hatten. Das Lesen hat mir andere Formen des Lebens eröffnet. Und als die Neugier über bestimmte Dinge wuchs, die tabu waren, habe ich Antworten gesucht. Die Sexualität entdeckte ich zunächst in Büchern.

Warum entscheidet sich die junge Protagonistin dazu, zu heiraten? Sie wird nicht gezwungen, sondern macht das, um ihre Mutter zu »befreien«.

Auf der Mutter lastet großer Druck, weil sie alleinerziehend ist. Das ist eine der schlimmsten Situationen, die wir uns vorstellen können. Sollte die Tochter vom rechten Weg abkommen, wäre die Mutter die Schuldige. Die Tochter bringt ein Opfer aus Liebe. Und wie es mit diesen Opfern so ist - sie können zu groß sein, und dann kompensiert sie nicht mal die Liebe, die man für die Person empfindet.

Würden Sie die Erzählerin als Feministin bezeichnen?

Ich glaube, ihr wird langsam bewusst, dass ihr Leben dadurch bedingt ist, dass sie eine Frau ist. Sie ist noch zu jung, um ein richtiges feministisches Bewusstsein zu haben. Bevor es soweit ist, muss man das eigene Unwohlsein begreifen, um zu verstehen, was die Wurzel dessen ist. Sie befindet sich in dem Prozess, aber es dauert ein wenig, bis sie diesen Diskurs wirklich artikulieren kann.

Ein anderes Thema des Romans ist der Rassismus der Gesellschaft. Im Roman werden etwa die Probleme beschrieben, die die Protagonistin und ihre Mutter bei der Wohnungssuche haben. Basieren die auf Ihren eigenen Erfahrungen?

Ich glaube, der Großteil von uns hat diese Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht, vor allem in der Arbeitswelt oder wenn es um Wohnungen geht. Es ist schwierig, eine dort zu bekommen, wo du möchtest, und das nicht nur aus ökonomischen Gründen. Ich hatte manchmal das Gefühl, subtil in ein bestimmtes Viertel gedrängt zu werden, in dem alle die gleiche Herkunft haben, also nicht nur aus dem gleichen Land stammen, sondern sogar aus dem gleichen Dorf. Das ist eine Form der Segregation. Dadurch entwickeln sich Dynamiken sozialer Kontrolle, es gibt viel Überwachung. Das ist eine sehr kleine Welt, die sehr erdrückend ist.

Der Roman kritisiert den Islam, und auch Sie haben das in Interviews getan. Ich weiß, dass das ein großes Thema ist - aber könnten Sie kurz darlegen, warum?

Die Werte, mit denen wir aufgewachsen sind, sind durch den Islam strukturiert, eine patriarchale Religion, die Frauen diskriminiert. Die Religion sollte Teil des Privaten sein und nicht die Gesetze von Ländern definieren, wie es in so vielen passiert, und auch nicht die sozialen Werte, in denen wir uns bewegen. Die Religion vermittelt eine so deutliche Botschaft der Misogynie und Diskriminierung, dass es unmöglich ist, ein wirklich emanzipiertes Leben zu führen, solange uns diese Normen bestimmen.

Ist es auch in einer laizistischen Gesellschaft notwendig, Feminist*in zu sein?

Ja, für mich gehören diese beiden Sachen zusammen. Eine laizistische Gesellschaft ist wie ein Regenschirm, der Religionsfreiheit für alle Menschen garantiert, ohne sich über andere zu stellen. Und unter diesen Regenschirm passen wir alle. Für mich ist das der gleiche Kampf. Und am Ende sind die Rechte, die wir erkämpfen, nicht nur für uns Frauen, sondern für alle Personen, die eine Form der Diskriminierung erleiden.

Interview: Isabella Caldart

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