Werkzeuge und Segel

Warum es sich lohnt, den englisch-kanadischen Politologen Stephen Gill kennenzulernen.

  • Ingar Solty
  • Lesedauer: 6 Min.

Begriffe sind das Werkzeug der Intellektuellen. Wie der Nagel ohne Hammer nicht in die Wand gelangt, bleibt auch der gesellschaftliche Zustand und seine Entwicklung ohne präzise Begriffe unerschlossen. Es gibt in den Politikwissenschaften von heute wiederum keinen Begriff, der das kritische Denken über den Neoliberalismus, das heißt über unsere Epoche, so sehr geprägt hat, wie der »neue Konstitutionalismus«. Sein Urheber ist der britisch-kanadische Politologe Stephen Gill, der dieser Tage 70 Jahre alt wurde.

Google findet diesen »new constitutionalism« 57 000 Mal. Gills Begriff »disziplinärer Neoliberalismus« bringt es auf 24 000 Treffer, die »Marktzivilisation« auf 145 000. Obwohl in grundsätzlicher Opposition zum Bestehenden brachte Gill es zu seltenen Ehren: Der »Distinguierte Forschungsprofessor« an der York University in Toronto schaffte es auf die internationale Liste der »50 Schlüsseltheoretiker in den Internationalen Beziehungen«, wurde zum Vizepräsidenten der »International Studies Association« ernannt und als Fellow in die »Royal Society of Canada« aufgenommen.

Unwahrscheinliche Karriere

Dass Stephen Gill eine solche Würdigung für sein Lebenswerk erfährt, ist im nachhinein erstaunlich. Geboren in einer Arbeiterfamilie in der Industriestadt Leeds in Nordengland war für Gill das Schicksal seiner Klasse eigentlich vorprogrammiert. Es gibt im Westen wohl keine so ausgeprägte Klassengesellschaft wie die englische, wo die besitzende Klasse und politischen Herrschenden sich über private, schulgeldpflichtige Eliteinternate wie das Eton College und ein Studium in »Oxbridge« - Oxford oder Cambridge - beständig selber reproduzieren. Vor diesem Hintergrund wuchs Gill mit einem besonderen Gespür für Klassenungleichheit auf. Das britische Klassensystem »schmiedete in mir einen Sinn für Ungerechtigkeit und eine widerständige Haltung gegenüber ungerechtfertigter Macht. Zusammen bildeten sie die Triebkraft hinter meiner intellektuellen und politischen Arbeit.« Dieses System sei »eine Form von gesellschaftlicher Macht, die dazu dient, mit einiger Grausamkeit Gehorsam gegenüber den Herrschenden herzustellen und die Kinder aus der Arbeiterklasse auf Lohnarbeit unter ständiger Kontrolle vorzubereiten. Es ist eine greifbare, beinahe materielle Kraft, die systematisch Lebenschancen vorherbestimmt.«

Gill weiß, wovon er spricht. Sein Vater und seine Mutter verließen die Schule im Alter von 14 Jahren und arbeiteten hiernach als halb qualifizierte Lohnarbeiter. Gill selbst war - auch durch besondere Förderung von klassensensiblen Lehrern - über Jahre hinweg der einzige an seiner Schule, der das Gymnasium (»Grammar School«) besuchen konnte. In einer riesigen Familie mit vierzehn Onkeln und Tanten blieb er auch der einzige, der es bis zur Universität brachte. Im kapitalistischen Westen brachten es die allerwenigsten Kinder seiner Klasse jemals bis zur Professur, geschweige denn zu einer mit solchem Status.

Gills Bedeutung lässt sich am besten anhand seiner Begriffe darlegen. Ausgehend von einem breiten - an Marx, Antonio Gramsci, Fernand Braudel und auch Michel Foucault orientierten - historisch-materialistischen Ansatz entwickelte er vor knapp dreißig Jahren den Begriff »neuer Konstitutionalismus eines disziplinären Neoliberalismus«. Er revolutionierte unser Verständnis der »Globalisierung«. Nach 1990 fielen fast alle Sozialwissenschaftler der Globalisierungsideologie anheim, derzufolge die Globalisierung ein nicht aufzuhaltender Prozess sei, dem sich Staaten bloß unterordnen könnten, indem sie ihre Sozialstaaten zurückbauten und ihre Lohnabhängigen im Namen von »Standort« und »Wettbewerbsfähigkeit« in unsichere Lebensverhältnisse stürzten. Gills späterer Kollege - und in Teilen auch Spiritus Rector - Robert W. Cox, hatte dagegen in seinem Standardwerk »Power, Production and World Order« (Columbia University Press, 1987) aufgezeigt, dass der Staat keineswegs machtlos geworden sei, sondern sich lediglich in Gestalt von - zwischen nationalen Regierungen vereinbarten - (»Frei«-)Handelsabkommen und Regelwerken internationalisiere. Die Regierungen verzichteten im Interesse der Konzerne gezielt auf Souveränitätsrechte und demokratische Steuerungsfähigkeit, um so eine Welt zu schaffen, in der Kapital überall auf der Welt die gleichen Regeln und Rechte vorfinde und entsprechend mobil sei.

In etwa zeitgleich hatte Stephen Gill in seinem Buch »American Hegemony and the Trilateral Commission« (Cambridge University Press, 1990) gezeigt, welche Rolle die 1973 in den USA gegründete Denkfabrik »Trilaterale Kommission« gespielt hatte, die Kapitalismuskrise der 1970er Jahre zu nutzen, um - auch gegen innere Widerstände von nationalen Kapitalfraktionen - diesen Prozess der kapitalistischen Transnationalisierung voranzutreiben, als einen Weg zum Erhalt der US-Hegemonie in der (westlichen) Welt und der Kapitalmacht gegenüber den Widerständen von Gewerkschaften und Entwicklungsländern. Die Internationalisierung von Produktion und Staat, so hatte Gill ein Jahr zuvor mit David Law argumentiert, steigere die »strukturelle Macht des Kapitals«, auf Arbeitskonflikte oder Umweltauflagen leichter mit Kapitalflucht reagieren zu können. Dies sei jedoch politisch gewollt und keineswegs alternativlos, wie es Margaret Thatcher proklamierte, vor der Gill 1990 als »intellektueller Flüchtling« nach Kanada auswich, wie er später schrieb.

Zorn wird zu Genauigkeit

Der Begriff »neuer Konstitutionalismus eines disziplinären Neoliberalismus« revolutionierte 1992 schließlich das Verständnis, wie transnationale Regelwerke dafür Sorge tragen, die Demokratie auszuhebeln. Internationale Vertragswerke wie das GATT-Abkommen (die spätere WTO) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (die spätere EU) würden die Nationalstaaten zu marktgetriebenen Entwicklungen und Sozialabbau zwingen. Die Handlungsspielräume würden für Regierungen bewusst eingeschränkt, die Dreifaltigkeit von Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung sakrosankt, unantastbar selbst für linke Regierungen, wenn diese Mal an die Macht gelangten. Gill nannte das die »Konstitutionalisierung von Ungleichheit«.

Heute sind diese Erkenntnisse auch dank Gill in der Linken gängig - auch wenn manche in der EU lieber nicht so genau hingucken, weil sie Kritik an dieser mit »Nationalismus« gleichsetzen. Gills Erkenntnisse inspirierten um die Jahrtausendwende die Globalisierungskritik, etwa in der Kritik am TRIPS-Abkommen, der »Schuldenbremse« oder an Investitionsschutzabkommen wie TTIP, TPP und CETA. Manche einflussreichen Wissenschaftler sorgen auch mit der Kritik der neoliberalen EU heute für Furore und verschweigen, dass marxistisch orientierte Wissenschaftler wie Cox, Gill, Leo Panitch und andere all das mehr als zwei Jahrzehnte früher formuliert haben.

Bei Gill war es auch sein Gespür für Klassenungerechtigkeit, das seine Forschung ermöglichte. Auf seinem Weg aus der Arbeiterklasse zum Weltintellektuellen begegnete er ständig den Kindern der Herrschenden, die es so viel leichter gehabt hatten und auf seine Klasse herabblickten. Deren Denken dazu beitrug, die Fesseln seiner Herkunft enger zu schnüren. Gills Zorn trug mit dazu bei, dass er - wie wenige andere - die Vordenker der herrschenden Klasse systematisch studierte und aufzeigte, wie ihre Herrschaftsideen Anwendung fanden, um Herrschaft zu festigen. Vor allem die Lektüre neoliberaler Vordenker wie Friedrich A. Hayek oder James Buchanan und der US-Hegemonialisten wie Samuel Huntington, Daniel Bell, Zbigniev Brzezinski machten Gills Denken fruchtbar. In seinen Seminaren war die systematische Lektüre von Hayeks »Der Weg in die Knechtschaft« und »Die Verfassung der Freiheit« essenziell. Der Gegner müsse so genau studiert werden, dass er »sich in der Darstellung und Kritik seiner Gedanken trotzdem wiederfinden« würde.

Wissenschaftlich waren ihm die Internationalen Beziehungen, die theorieärmste und der Macht am nächsten stehende Disziplin, zu eng. Mit Cox trug er dazu bei, die Internationalen Beziehungen materiell zu erden: Durch politische Ökonomie, politische Soziologie, die Theoretisierung der sozialen Reproduktion etablierten sie den »Neogramscianismus« als neues, historisch-materialistisches Paradigma in dieser Sparte.

Die Suche nach einer besseren Welt gelingt nur, wenn sie dafür die richtigen Werkzeuge, die richtigen Begriffe hat - Begriffe, wie sie Stephen Gill prägte. Denn, wie der von ihm so geschätzte Walter Benjamin in seinem »Passagenwerk« schreibt: »Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende.«

Und so verdanken die globalen Bewegungen der Machtlosen auch Stephen Gill ihre Segel. Nur: Verstehen wir denn auch, sie wirklich zu setzen?

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