Zum Heulen witzig

»Eine Formalie in Kiew« von Dmitrij Kapitelman ist ein Roman über die Bürokratie und eine Familie, die sich irgendwo zwischen der Ukraine und Deutschland verloren hat

  • Othmara Glas
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Russischen schnurren Katzen nicht. Sie singen. »Wem die Katzen schnurren, der ist ein besungener Mensch«, schreibt Dmitrij Kapitelman. Dabei beginnt sein neuer Roman ausgerechnet auf einer »von sibirischen Katzen vollgepissten Treppe«, auf der der Protagonist eine schicksalshafte Entscheidung trifft.

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Dmitrij Kapitelman: »Eine Formalie in Kiew«.
Hanser, 176 S., geb., 20 €. •

Denn Dima hat genug. Vor allem von seinen Eltern hat er gehörig die Nase voll: vom »laschen« Vater Leonid und der katzenverrückten Mutter Vera. Die hat sich in Leipzig mit ihren 13 Katzen eine »regelrechte russische Enklave« herangezogen. In »Katzastan« haben weder Leonid noch Dima viel zu sagen. Auch deshalb will er sich von seinen Eltern abgrenzen. Nach einem Vierteljahrhundert in Deutschland scheint ihm die Beantragung der deutschen Staatsbürgerschaft dafür der einfachste Weg zu sein. Doch wer die deutsche Bürokratie kennt, ahnt bereits: Es beginnt eine tragikomische Jagd nach Dokumenten. »Zum Heulen witzig«, nennt es der Protagonist selbst am Anfang der Geschichte.

»Eine Formalie in Kiew« ist das zweite Werk von Dmitrij Kapitelman. Wie schon in seinem Debütroman »Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters« heißt der Ich-Erzähler Dima, die russische Koseform von Dmitrij, und der Roman trägt auch klare autobiografische Züge. Wie Kapitelman selbst wurde Dima 1986 in der Ukraine geboren und kam im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland. Als »jüdische Kontingentflüchtlinge« landeten sie ausgerechnet im Sachsen der 90er Jahre: Das Einwandererkind Dima wird von Neonazis durch Leipziger Plattenbauviertel gejagt.

Auch das wird ein Grund sein, weshalb er wie seine Eltern nie wirklich in Deutschland angekommen ist. Sie eröffnen ein Geschäft für russische Spezialitäten, für den Sohn haben sie kaum noch Zeit. Die Familienmitglieder entfremden sich immer mehr, bis sich Dima auf der Leipziger Ausländerbehörde in feinstem Sächsisch erläutern lässt, was eine Apostille ist. Um Deutscher zu werden, braucht er eine amtlich beglaubigte und übersetzte Geburtsurkunde. Die gibt es jedoch nur in seiner Geburtsstadt. Also reist Dima nach Kiew, das er nur noch aus Kindheitserinnerungen kennt.

Für den 32-jährigen Protagonisten ist die Ukraine ein fremdes Land, obwohl er die »postsowjetische Staatssäure mit der Muttermilch aufsog«. Es wird eine Reise in die Vergangenheit. Eine liebevolle »Damals-Mutter« warnte ihn davor, auf Gullydeckel zu treten. Denn in der Ukraine wisse man nie, ob sie festgeschraubt sind. Sein selbstbewusster »Damals-Vater« war ein gewitzter Geschäftsmann. Dima lernt aber auch das heutige Kiew kennen, vor allem die ukrainische Bürokratie und die Korruption. Mal mehr, mal weniger geschickt übergibt er das notwendige Bestechungsgeld, um das, was er braucht, zu bekommen.

Kapitelman gelingt es, den Protagonisten eine emotionale Tiefe zu verleihen, die den Leser Tränen lachen lässt. Gleichzeitig kann man mitfühlen, wie gefangen sie in ihren jeweiligen Welten sind. Dabei wendet sich Dima manchmal auch direkt an die (deutschen) Leser, spricht sie mit »Liebe Landsleute« an, um dann besonders absurde Begebenheiten aufzuzeigen. Zu Recht fragt man sich, warum es für einen Menschen, der seit 25 Jahren in Deutschland lebt, nicht einfacher ist, die Staatsbürgerschaft zu erhalten.

So schafft Kapitelman mit seinem Buch auch Aufmerksamkeit für ein Thema, das unter postsowjetischen Migranten gerade besonders stark diskutiert wird: Was heißt es eigentlich, ukrainisch-russisch-jüdisch-deutsch zu sein? Die Taz-Redakteurin Erica Zingher schrieb vor einiger Zeit, dass die Einwanderung »jüdischer Kontingentflüchtlinge« lange als Erfolgsgeschichte in Deutschland galt. Die noch 1990 von der DDR geschaffene Möglichkeit, dass Juden aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten einwandern können, war mit einer Hoffnung verknüpft: »Wir sollten das jüdische Leben in Deutschland wieder aufblühen lassen«, schreibt Zingher. »Sie, wir, waren die guten Migrant:innen«, bis sie von der Bundesregierung vergessen wurden.

Kapitelman bezeichnet sich in seinem Buch selbst als »Demokratiedeutscher«, der gerade jetzt im Anblick einer erstarkenden AfD gebraucht werde. »Möglich, dass Deutschsein bald wieder offiziell über Blut, Farbe, Parteibuch und Religion definiert wird.« Doch vor allem in Kiew merkt man der Figur ihre Zerrissenheit an. Hier das ukrainische Staatsleben, im Westen das deutsche. Da das verhasste »Katzastan« der Mutter, hier Katzen, die sich von Dima verwöhnen lassen.

Eine unerwartete Wendung nimmt die Handlung in der zweiten Hälfte des Buches. Alle Dokumente endlich beisammenhabend, stolziert Dima durch Kiew. Er fühlt sich wie ein König - bis sein Vater anruft. Wirr erzählt Leonid, dass er seine Zähne verloren habe. Er wolle nach Kiew kommen, um sich ein neues Gebiss machen zu lassen. Von da an geht es nicht mehr um vergleichsweise simple Bürokratie, sondern um Fragen von Leben und Tod.

Dima macht seiner Mutter schwere Vorwürfe. Als auch Vera endlich in die Ukraine reist, will er sie anschreien. Doch statt seiner Wut Luft zu machen, schweigt er. Obwohl Dima mehrere Sprachen spricht, kann er sich mit seiner eigenen Familie nicht verständigen. Doch ausgerechnet an dem Ort, den sie einst mit Hoffnung auf ein besseres Leben hinter sich gelassen hatte, nähert sich die Familie wieder an. Begleitet vom Gesang der Katzen.

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