Gut geordneter Aufstand

In Krisenzeiten sucht der Widerspruchsgeist der Menschen neue Wege - eine Demokratieplattform will Bürgerbeteiligung optimieren

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Fenn ist ein Teich in der brandenburgischen Gemeinde Damsdorf, den die Anwohner Fenne nennen, wo sie spazieren und im Frühjahr gucken gehen, ob die Gänse Küken haben. Der Fenn ist kein Ort für die große Politik, und doch zeigt sich schnell, dass neben dem Biber hier auch die Demokratie zu Hause ist. In Form der hiesigen Angelfreunde nämlich. Die sind in einem Verein organisiert, dem Sportfischerverein Damsdorf, der am und im Gewässer für Ordnung sorgt, dafür, dass die Fische gute Bedingungen haben und die Fischwilderer schlechte, wenn sie ihre Angeln ohne eine Gebühr in das Wasser halten. Der Damsdorfer Verein ist einer von rund 600 000 in Deutschland, eine Säule des Gemeinwesens im Land und des Zusammenhalts im Ort.

Der Angelverein leidet derzeit unter den Corona-Auflagen, wie die meisten Vereine. »Obwohl wir den großen Vorteil haben, dass wir im Freien agieren«, sagt Uwe Pape, der Vereinsvorsitzende. Die Ansteckungsgefahr ist geringer, die Abstandsregeln sind leichter einzuhalten. Doch im vergangenen Jahr wurde nicht geangelt, auch Feste fielen aus, die Einnahmen sanken und die jährliche Entlastung des Vorstands sowie des Kassenwarts auf einer Mitgliederversammlung, die vom Vereinsrecht vorgeschrieben ist, musste verschoben werden.

Anderen Vereinen geht es noch schlechter in diesen Zeiten. Für manche wie die Karnevalsvereine ist eine Welt zusammengebrochen. Doch Corona ist nicht nur Handicap und Hemmnis für Menschen, die in ihrem Verein normalerweise Erfüllung finden, Selbstverwirklichung, vielleicht sogar ihre Mission zur Gestaltung der Gesellschaft sehen. Sie ist auch Auslöser für kreative Selbstbehauptung. Das Landratsamt habe den Damsdorfer Anglern mittlerweile die siebente Auflage der Sars-CoV-2-Eindämmungsverordnung zur Kenntnis gegeben, sagt Uwe Pape. »Die musst du erstmal alle lesen und auch noch verstehen.« Aber das Vereinsleben werde endlich weitergehen - mit einer Mitgliederversammlung im Mai, auf der der Jahresbericht abgesegnet und der Vorstand entlastet werden kann. »Da stellen wir 50 Stühle auf eine Wiese«, sagt Pape.

Kreativität im Kleinen. Man muss ja irgendwie zurechtkommen. Doch die Seuche ist auch Auslöser erbitterter Debatten, von Streit darüber, was richtig und was falsch ist in diesen Zeiten. Die regelmäßigen Demonstrationen von Gegnern regierungsamtlicher Corona-Maßnahmen sind hierfür untrügliches Zeichen ebenso wie der polemische Gegenwind, der ihnen entgegenschlägt. Man kann beides als Teil der gesellschaftlichen Debatte betrachten, auch wenn gegenseitige Delegitimationsversuche den Eindruck vermitteln, dass Debatte eigentlich nicht gewollt ist. Von beiden Seiten.

Eines scheint sicher: In Krisenzeiten wie der jetzigen ruft das massenhafte Gefühl von Ohnmacht das Bedürfnis nach Selbstermächtigung wach. Die Frage lautet, ob Corona Auslöser sein könnte für mehr Beteiligung der Menschen außerhalb politischer Routinen und Strukturen - auch wenn oder eben weil es dabei um die großen Fragen der Gesellschaft geht.

Simon Strohmenger findet, ja. Er ist Mitarbeiter im Verein »Mehr Demokratie«, dem deutschen Verein für Stimmverstärkung der Bürger, wie man sagen könnte. Oder, wie sich »Mehr Demokratie« selbst definiert, der größten Nichtregierungsorganisation für direkte Demokratie weltweit. Die Organisation hat sich schon vor Monaten klar für eine Einbeziehung der Bevölkerung in die politischen Entscheidungen auch zu Corona ausgesprochen: »Anstatt in der Bevölkerung aufkommende Diskussionen zu maßregeln oder Gerichte und damit Bürger zu kritisieren, die den Rechtsweg beschreiten, sollten … die Bundes- und Länderregierungen endlich erklären, wie sie die Bürgerinnen und Bürger stärker einbinden wollen, dafür Konzepte vorlegen und umsetzen.«

Simon Strohmenger ist zuständig in seinem Verein für die Beratung und Verbreitung einer Neuerung, die der Bürgerbeteiligung einen Schub geben könnte. Consul heißt diese Neuerung, die so neu gar nicht ist, wenn man ihre Anfänge betrachtet. Es handelt sich um eine Internetplattform, die zeigt, dass Digitalisierung Waffengleichheit zu schaffen hilft bei der Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte. Nerds der Protestbewegung gegen die Finanzkrise vor knapp zehn Jahren in Spanien entwickelten die Software, die Bewegung Podemos setzte sie in Madrid und Barcelona ein, wo ihre Vertreter in die Kommunalvertretungen gewählt worden waren.

Mittlerweile hat sie einen weltweiten Siegeszug angetreten, über Lateinamerika gelangte sie bis nach New York und kehrte zurück nach Europa, wird in Paris oder Turin eingesetzt. Voraussetzung ist immer, dass Kommunen die Beteiligung ihrer Bürger wollen, ihren Rat ernst nehmen. Am Ende entscheidet politischer Wille, aber Beteiligungsverfahren können kräfteraubend sein. Consul bringt hier Ordnung ins System. Das ist für alle Seiten gut. Auch in Deutschland kann sich Strohmenger kaum mehr vor Anfragen retten. Bereits zehn Städte gibt es, die die Plattform nutzen. Und 50 Anfragen lägen ihm vor, sagt der junge Mann mit dem blonden Schopf. Ab der kommenden Woche soll die Plattform in Amberg zugänglich sein. Im März wurde sie in München implementiert, dort sollen im Juli die ersten Projekte zur Debatte gestellt werden.

Consul ist ein Werkzeug zur Einmischung von Bürgern in die Politik, zunächst in kommunale. Die Open-Source-Software wurde von Nutzern entwickelt, die sie allen zugänglich machen wollten. Ob Debatten oder Petitionen, Beteiligung an Gesetzesvorhaben, Abstimmungen oder Bürgerhaushalte - die Bausteine sind alle einzeln abrufbar, bauen aufeinander auf und sind einfach zu handhaben. Jeder kann darauf zugreifen. Und das Ganze kostet nichts.

Seit Jahren kennt man Bürgerhaushalte als Institution - in Berlin-Lichtenberg oder Jena bestimmen Bürger mit, wofür kommunale Mittel verwendet werden sollen. Ein noch junges Instrument sind die Bürgerräte - im vergangenen Monat überreichte ein Bürgerrat Vorschläge zur deutschen Außenpolitik an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Seit diesem Monat beschäftigen sich 160 zufällig ausgeloste Menschen in einem weiteren Bürgerrat mit der Klimakrise, einer anderer gründet sich soeben zum Thema Bildung und Lernen. All diese Mittel der Bürgerbeteiligung können in Consul Werkzeuge finden, um ihre Arbeit zu optimieren. Consul ist ein Instrument zur Vernetzung von Bürgern und für den Dialog zwischen Bürger und Politik. Und sein Nutzen geht offenkundig über kommunale Belange hinaus, wenn Landesbehörden wie in Kolumbien oder Uruguay die Plattform nutzten, um Nachhaltigkeitsstrategien zur Erreichung ihrer nationalen Klimaziele zu entwerfen.

Seit der Coronazeit sind die Defizite der Digitalisierung in Behörden in aller Munde. Aber nicht nur dort wurden Kommunikationsdefizite deutlich. »Auch die Zivilgesellschaft hat in diesen Zeiten ein Problem. Transparenz ist ja auch für uns ein Thema«, sagt Strohmenger. Generell gilt: Digitale Angebote senken die Hürden, sich in politische Entscheidungen einzumischen. Consul kann den Kreis von Menschen erweitern, die sich für ein Thema interessieren und etwas zu sagen haben. Nicht mehr nur gut organisierte Vereine nähmen Einfluss, sondern vernetzte Bürger, hebt Strohmenger hervor.

Allerdings muss die Politik die Beteiligung der Bürger auch wollen. Auch ein Abstimmungstool findet sich auf der Consul-Plattform. Doch die Verbindlichkeit digitaler Abstimmungen ist in Deutschland noch umstritten. Datenschutzrisiken sind nur einer der Gründe. Ein anderer ist, dass die herrschende Politik in Deutschland direkte Demokratie immer argwöhnisch beäugt und möglichst rigide begrenzt hat. Auch für die Bürgerbeteiligung behält sich die Politik das letzte Wort vor.

In einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung über die Wirkung von Bürgerräten heißt es etwa, diese und die Parlamente könnten in eine Legitimationskonkurrenz zueinander treten. Diese werde nur verhindert, wenn das Parlament »klarer Auftraggeber des Verfahrens« sei. Das Volk ist damit Ratgeber von des Beratenen Gnaden. Auch Consul braucht die Bereitschaft der Politik, sich hineinreden zu lassen. In den Kommunen geht es meist um Stadtplanungsprojekte, da ist der Widerspruch ohnehin programmiert. Das Engagement der Bürger selbst ist ein scheues Reh - es folgt der Einladung der Politik nur, wenn diese bereits vorher zusichert, den guten Rat auch zu nutzen. Andernfalls verschafft es sich nach eigenen Regeln Gehör.

Ohnehin ändert eine Internetplattform nichts an den Verhältnissen. Am Ende entscheiden Regierungen und Parlamente. Die Selbstermächtigung der Bürger hat ihre Grenzen dort, wo sie im Gerangel der Lobbyisten zu einer Stimme von vielen mutiert. Da braucht es außer Bürgerbeteiligung auch die Mittel der direkten Demokratie wie Petitionen oder Volksbegehren. An der Tatsache, dass Parlamente über die Köpfe ihrer Bürger hinweg entscheiden, wird eine Computersoftware nichts ändern, nicht daran, dass Sozialkürzungen und Aufrüstung, Auslandseinsätze der Bundeswehr oder Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen regelmäßig gegen den Willen der Mehrheit der Menschen beschlossen werden.

Aber sie kann helfen, einen Willen von unten zu artikulieren und Menschen zu vernetzen, die ihn äußern. So rufen derzeit die Linken-Politiker Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine dazu auf, die Bundestagswahl im Herbst zu einer »Bürgertagswahl« zu machen. Über ihre Medienkanäle versuchen sie hierfür die Menschen zu gewinnen. Und auch eine Software wollen sie dabei für die Mobilisierung der Massen und für die Diskussion ihrer Forderungen nutzen: Consul.

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