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  • Initiative »Kultur ins Grundgesetz«

Elementarer als Arithmetik

Zum Verfassungstag: Kinderbuchautorin Claudia Opitz über die Initiative »Kultur ins Grundgesetz«

Frau Opitz, Sie haben zusammen mit Kollegen eine Petition gestartet: »Kultur ins Grundgesetz«. Die Freiheit der Kunst wird unter Artikel 5 Abs. 3 garantiert.

Und das ist uns zu wenig. Gerade die Coronakrise hat die Schieflage offenbart, in die der Kunst- und Kulturbereich in Deutschland schon seit Jahren, lange vor der Pandemie, geraten ist. Künstler und Kulturschaffende sind von den Lockdowns allerdings besonders dramatisch betroffen. Zudem: Die Deklamation der »Freiheit der Kunst« nützt nichts, wenn die Rahmenbedingungen hierfür nicht gegeben sind. Diese müssen staatlicherseits festgelegt werden. Damit sind nicht Inhalte, sondern Voraussetzungen gemeint. Kunst und Kultur können nur frei sein und ihre gesellschaftliche Aufgabe erfüllen, wenn ihnen die dafür notwendige Achtung und Akzeptanz auf bundespolitischer Ebene entgegengebracht wird. Und nicht wie bislang Kulturförderung mehr oder weniger als freiwillige Aufgabe der Länder und Kommunen angesehen wird. Der Stellenwert von Kunst und Kultur muss als ein kollektives gesellschaftliches Interesse grundrechtlich geschützt werden. Dies betrifft nicht nur den Schutz unseres kulturellen Erbes, sondern auch die Förderung der kulturellen Landschaft in ihrer ganzen Vielfalt.

Interview

Kunst und Kultur sind elementarer als Arithmetik, ist Claudia Opitz (53) überzeugt. Mit Musik und Tanz aufgewachsen, ist die Kinderbuchautorin (»Das Zebra und der Kolibri«, auch als Kinder-Revue inszeniert) besorgt über den Schwund an kultureller Bildung hierzulande und vor allem auch über die Ignoranz der Politik gegenüber Kunst- und Kulturschaffenden, wie sie sich nicht nur während des Lockdowns offenbarte. Im November vergangenen Jahres gehörte sie deshalb zu den Mitbegründern der Aktion »Kultur ins Grundgesetz«. Anlässlich des bevorstehenden Tages der Verfassung der Bundesrepublik am 23. Mai sprach mit ihr Karlen Vesper.

In deutschen Landesverfassungen ist Kultur nicht ganz so dürftig oder lakonisch wie im Grundgesetz benannt.

Das stimmt. Und einige Länder wie Hessen haben die entsprechenden Paragrafen jüngst noch erweitert. Nordrhein-Westfalen ringt um ein neues Kulturgesetz. Dennoch kommen wir nicht umhin festzustellen, dass es vielfach nur bei Symbolik bleibt, gut gemeinte Gesten, wenn der große Wurf ausbleibt.

Auch wenn Sie keine Juristin sind, wie würden Sie den gewünschten Artikel im Grundgesetz denn formulieren?

»Der Staat schützt und fördert Kunst und Kultur.« Damit wäre viel gewonnen. Nur wenn das so eindeutig im Grundgesetz steht, ist die Gewichtung zu erkennen, die Deutschland Kultur und Kunst zumisst. Damit würde deutlich, dass Kunst und Kultur eben nicht nur das Sahnehäubchen sind, das man sich in guten Zeiten leistet, sondern Deutschland sich als Kulturstaat definiert. Wenn dieses Bewusstsein und dieses Bekenntnis nicht verfassungsrechtlich normiert wird, sehen wir in den nächsten Jahren alt aus, sind weiterer Kulturkahlschlag und zunehmende Kulturlosigkeit zu befürchten. Wir schließen uns der Forderung des Deutschen Kulturrates an, was jahrelang auch von von der durch den Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« diskutiert und schließlich von allen Parteien 2007 abgenickt worden ist: nämlich den Artikel 20 im Grundgesetz um einen Absatz zu erweitern. »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«, heißt es dort. Hier muss die Kultur mit rein.

Sehen Sie im Föderalismus ein Hindernis für die freie Entwicklung von Kunst und Kultur, Kunst und Kulturschaffenden?

Nicht unbedingt. Die Verankerung von staatlichem Schutz und staatlicher Förderung impliziert aber auch bessere soziale Sicherung der Künstler. Dies muss nicht ausschließen, dass die Bundesländer eigene Förderungsgesetze haben. Es wäre erfreulich, wenn etwa Berlin ein Kulturfördergesetz endlich auf den Weg bringt, wie es die Aktion hauptstädtischer Künstler »Wir sind Kultur« fordert. Die Länder können und sollen eigene Tarifwerke ausarbeiten, dennoch braucht es Sicherungs- und Förderinstrumente auf Bundesebene.

Beruhend auf der Erfahrung, dass in Krisenzeiten Kommunen und Länder als erstes im kulturellen Bereich einsparen?

Ja, auch. Wenn der Stellenwert der Kultur für die Gesellschaft im Grundgesetz fixiert ist, müssten natürlich auch finanzielle Zuordnungen neu geregelt werden. Der Bund beteiligt sich zwar jetzt schon monetär über Länderfördermittel, doch macht dies nur einen marginalen Teil aus und betrifft hauptsächlich sogenanntes nationales Kulturgut.

Meine persönliche Idee ist es, auch eine Art Kulturländerausgleichsgesetz zu schaffen: Bundesländer, die in finanzieller Not sind, werden in Sachen Kultur und Kunst von anderen Bundesländern für einen gewissen Zeitraum unterstützt, bis sich die jeweilige Lage stabilisiert hat. Denn es kann nicht sein, dass in finanzschwachen Regionen die Bevölkerung vom Anspruch auf Kunst und Kultur ausgeschlossen wird, denn diese sind wichtig für die Lebensqualität.

In Artikel 18 der DDR-Verfassung war die staatliche Verantwortung für Kunst und Kultur ausführlich kodifiziert, wenn auch nicht ohne das Adjektiv »sozialistisch«, entsprechend damaligem Selbstverständnis und Zeitgeist. Fürchten Sie nicht den Vorwurf, mit Ihrer Forderung Kunst und Kultur dem Staat zu unterwerfen?

Dieses Gegenargument ist so alt wie die Diskussion um die staatliche Hoheit für Kunst und Kultur und hat auch die Debatten in der Enquete begleitet. Das ist ein zu allen Zeiten hart umkämpftes Feld. Und es zeigt sich gerade jetzt wieder, dass es für kritische Künstler schwieriger wird, sich zu behaupten. Wenn beispielsweise der Intendant eines Öffentlich-Rechtlichen Senders in Bezug auf einen Kritik übenden Künstler meint, dieser sei undankbar, hätte er doch sogar zu Lockdown-Zeiten arbeiten dürfen, klingeln bei mir alle Alarmglocken. Wir erleben auch immer wieder, dass bestimmte Projekte nur unter bestimmten thematischen Voraussetzungen gefördert werden und eine Priorisierung von vorn herein stattfindet. Die Gefahr der Ausrichtung oder Drangsalierung von Kulturarbeit besteht latent bei gewissen Mehrheitsverhältnisse in den Länderparlamenten wie auch im Bundestag. Abhängigkeiten gänzlich auszuschließen, halte ich für naiv. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, den Staat in die Verantwortung zu nehmen - nicht nur finanziell.

Ein weiteres Problem ist: Der ganze Kulturbetrieb hierzulande krankt an Zerfledderung und Zersplitterung in tausend Verbände, Vereine und diverse Interessenvertretungen. Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass Künstler Individualisten sind. Es fehlt an Vernetzung zum gegenseitigen Kennenlernen und Erkennen gemeinsamer Probleme, um dann konkrete Forderungen an die Politik zu adressieren.

Wer sind die Unterstützer Ihrer Initiative?

Die Liste der Unterzeichner liest sich wie ein bundesweites Who is Who, branchen- und parteienübergreifend, darunter Prominente wie Wim Wenders, Konstantin Wecker, Sebastian Krumbiegel, Andrej Hermlin, Gregor Gysi und Klaus Leder.

Die neun originären Gründer, zu denen nebst Ihnen unter anderen Kathrin Schülein vom Theater Ost und Songpoet Tino Eisbrenner gehören, sind DDR-sozialisiert - ein Grund für Ihr Engagement?

Wir haben von Kindesbeinen an erlebt, dass alle Lebensbereiche von Kultur durchdrungen sind. Schulklassen und Betriebskollektive wurden Theater- und Konzertkarten kostenlos zur Verfügung gestellt, die auch für Privatpersonen erschwinglich waren. Es sei dahingestellt, dass die großzügigen staatlichen Angebote zu DDR-Zeiten auch ideologisch missbraucht wurden. Aber sie waren vor allem von der Auffassung geleitet, dass kulturelle Bildung wichtig für die Menschen ist. Im schulischen und außerschulischen Bereich ist heute der Anteil von Kunsterziehung, Kulturgenuss und kulturelle Betätigung stark gesunken.

Was elitäre und private Schulen vielleicht eher nicht betrifft, vielmehr das vielschichtige öffentliche Bildungssystem, das Kindern aus Migranten- oder Hartz IV-Familien kaum reale Chancen bietet.

Die soziale Ausdifferenzierung ist das eine, sehr besorgniserregende Problem. Das andere, was auch kaum jemand bestreiten dürfte: Das Bildungssystem bei uns ist zu einer Nullnummer verkommen. Unsere Kinder sind nicht dümmer, nur ungebildeter. Und dies liegt daran, dass sie bereits in der Schule auf die Marktlogik getrimmt werden, der alle Lebensbereiche unterworfen seien. Das aber ist falsch. Vor allem wenn auch Kunst und Kultur ausschließlich aus dem Blickwinkel der Gewinnmaximierung betrachtet werden. Das kann nur nach hinten losgehen. Kunst und Kultur sind elementar. Sie dienen der Herausbildung von Werten, Identität, Selbstbewusstsein und Solidarität. Gerade wenn eine Gesellschaft wie die heutige durch mächtige Zentrifugalkräften zu zerreißen droht, braucht es Kunst und Kultur, um sie im Kern zusammen zu halten. Wer das nicht begreift, der tut mir leid.

Was also ist zu tun?

Ein Beispiel: Der Der Generalsekretär des Deutschen Musikrates hat festgestellt, dass 80 Prozent der Musiklehrer an den Schulen fachfremd sind. Aber nicht alle, vielleicht gar die wenigsten Absolventen von Musik- und Gesangshochschulen finden eine Festanstellung. Sie könnten für ein festes Honorar oder besser noch mit Tarifvertrag an Schulen mit Kindern musizieren, Stücke einstudieren oder sie in Musikgeschichte einweisen. Das wäre ebenso vorstellbar für andere Sparten. Wir haben heute an Schulen nicht mal im Ansatz einen adäquaten Input bei den Kindern.

Wer nicht frühzeitig kulturell sensibilisiert wird, dürfte auch im späteren Leben Kultur und Kunst nicht missen?

So ist. Der Musikwissenschaftler Hans Neuhoff von der Hochschule für Musik und Tanz Köln prophezeite kürzlich, dass wir uns nicht wundern dürfen, wenn Künstler 2030 kein Publikum mehr haben.

Eine düstere Prognose. Die sich in der Alltagskultur rächen könnte. Der Ton im öffentlichen Umgang miteinander ist deutlich rüder und aggressiver.

Es mag altmodisch klingen, ich bin dennoch der Überzeugung: Der Mensch ist ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse. In den deutschen Zuständen heute spiegelt sich, was wir seit 30 Jahren an Entsolidarisierung erlebt und auch eingetrichtert bekommen haben: Individualisierung als höchster Ausdruck von Freiheit. Jetzt haben wir eben diesen gewünschten Typus Mensch, der nur an sich denkt, die Ellenbogen einsetzt und den das Leid des Nachbarn unberührt lässt. Das hat auch etwas mit mangelnder Kultur zu tun. Wer nicht die Erfahrung gemacht hat, dass ein Theaterstück aufwühlt, ein Gedicht oder ein Lied zu Tränen rührt, der nicht von einem Buch berührt wird und über dieses diskutieren möchte, der bleibt emotionsarm.

Deshalb bin ich überzeugt, dass die Partizipation an Kunst und Kultur von Kindheit an wichtig ist. Der Campus Rütli, also an eben jener Schule in Berlin-Neukölln, die vor mittlerweile über einen Jahrzehnt wegen besonders aggressiven Verhaltens der Schüler in die Schlagzeilen geraten war, macht es vor. Seit dort ein integratives Bildungs-, Sozial und Kulturkonzept realisiert wird, gibt es nicht mehr diese Probleme.

Machen wir uns nichts vor: Wir sind in eine Arbeitswelt vorgedrungen, in der immer weniger Menschen für die direkten Produktion oder Dienstleistungen gebraucht werden, da Maschinen die Arbeit übernehmen. Es werden dafür immer mehr Menschen in sozialen Berufen gebraucht. Aber wie sollen diese Empathie für ihre Patienten oder Schutzbefohlenen entwickeln, wenn sie kulturell minderbemittelt sind? Mitgefühl und Solidarität erwächst nicht aus dem Wissen, dass Eins plus Eins gleich Zwei ist. Mir ist übrigens hinter vorgehaltener Hand schon zugetragen worden, dass selbst in einigen Gremien, die übers Wohl und Wehe von Kultur und Kunst entscheiden, Menschen sitzen, die keine Ahnung und kein Interesse an Kultur haben.

Kann Kunst Kriege beenden?

Beenden vielleicht nicht, aber unsägliche Entwicklungen verlangsamen oder abwenden, Hass und Feindschaft abbauen. Mit dem Mitautor und Grafiker meiner Bücher, Sebastian Köpcke, habe ich vor drei Jahren eine Ausstellung zum 90. Jahrestag des legendären, hierzulande vor allem durch den Auftritt auf dem Berliner Gendarmenmarkt 1948 im ersten Nachkriegsjahr berühmten Alexandrow-Ensembles kuratiert. An dessen Geschichte kann man wie auf einem Zeitstrahl ablesen, wie Kultur zur Völkerverständigung beitragen und Brücken bauen konnte.

Wie steht es um das Echo auf Ihre Initiative »Kultur ins Grundgesetz«?

Wir haben ein sehr großes Echo, es geht zügig voran. Verdi unterstützt unseren Aufruf. Bis zum 13. Juni wollen wir 50 000 Unterzeichner gewonnen haben. Leider konnten wir wegen Corona nicht die öffentlichkeitswirksame Werbung betreiben, die wir uns gewünscht hätten. Ich denke, dass wir aber dennoch genug Druck auf die Politik aufbauen können und neben den drei auf unserer Homepage nachlesbaren Zielen erreichen, dass in der neuen Legislaturperiode erneut eine Evaluierungskommission eingesetzt wird, die analysiert, was sich in den letzten Jahren im kulturellen Bereich getan hat. Und wie man sich künftig besser auf Krisen wie einer Pandemie vorbereitet im Sinne von Kunst und Kultur.

Die auf ihrer Homepage genannten drei Ziele sind: Schutzes von Kunst und Kultur und unbeschränkte Teilhabe aller Bürger am kulturellen Leben und kultureller Bildung als Grundrechte im Grundgesetz sowie die Etablierung langfristiger Sicherungsinstrumente für Künstler.

Richtig. Wichtig aus meiner Sicht ist außerdem: Wir brauchen ein Bundeskulturministerium, nicht nur ein Anhängsel in Form eines Staatssekretariats.

Wie viele signierten schon Ihren Aufruf?

31 000 Menschen.

Die restlichen 20 000 erhalten Sie von den »nd«-Lesern.

(Lacht) Ich bitte darum. Und danke schon mal vorab.

Unterzeichnung der Petition und weitere Infos unter www.kulturinsgrundgesetz.de
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