Mehr Macht für Radprofis

Beim Giro d’Italia deutet sich ein Umdenken bei der Mitsprache der Fahrer an

  • Tom Mustroph, Sega di Ala
  • Lesedauer: 5 Min.

Aus Fehlern lernt man, sogar im von Traditionen geprägten und zuweilen arg rückwärtsgewandten Radsport. Das Beispiel einer ziemlich steilen Lernkurve bot dieser Tage der Giro d’Italia. Als Wetterunbilden drohten, die 16. Etappe zu einer Rutschpartie auf Rädern zu machen, nahm RCS, der Organisator der Italien-Rundfahrt, kurzfristig zwei von drei Dolomitengipfeln aus dem Programm. »Wir wollten nicht wieder die gleiche schlechte Figur abgeben wie im vergangenen Jahr«, begründete Giro-Chef Mauro Vegni im italienischen Fernsehen die Entscheidung.

Während des Giros im Jahr 2020 waren die Fahrer am Morgen einer 250 Kilometer langen Flachetappe in den Streik getreten - und hatten eine Verkürzung durchgesetzt. Grund waren damals heftige Regenfälle. Vegni war zornig, drohte den Profis gar Vergeltungsmaßnahmen an. Für Unmut bei den Organisatoren und beim Fernsehen hatte auch gesorgt, dass die Fahrer erst kurz vor dem Start mit ihren Protesten begannen und somit einen neuen Plan erschwerten.

In diesem Jahr waren alle ein wenig schlauer. »Die CPA-Gruppe unter den Fahrern begann schon am Freitag zu diskutieren«, berichtete Felix Großschartner, Österreicher in Diensten des deutschen Teams Bora-hansgrohe, dem »nd«. Die CPA ist die offizielle, und in der Vergangenheit oft wegen Untätigkeit kritisierte Fahrergewerkschaft. »Ich habe denen gesagt, wartet doch erst mal ab, wie das Wetter wird«, blickte der Österreicher zurück.

Die Voraussagen blieben allerdings durchgehend schlecht. Kälte und Regen waren für die Dolomitenpässe am Montag angesagt. »Angesichts dieser Bedingungen war die Sicherheit der Rennfahrer gefährdet. Vor allem das Risiko in den Abfahrten war zu groß«, sagte Vegni. Dass nur zwei der drei Pässe gestrichen wurden, erklärte er so: »Am Passo Giau sind die Straßen in der Abfahrt breiter als bei den anderen beiden Pässen. Das kann man verantworten.«

Alles gut also? Weit gefehlt! Im italienischen Fernsehen wurde Vegni wegen der Verkürzung scharf angegangen. Die RAI blendete Bilder ein, auf denen es auf den Pässen gerade nicht regnete. Vegni musste sich in der Fernsehshow »Processo alla Tappa« tatsächlich wie ein Angeklagter in einem Prozess vorgekommen sein. Die Moderatorin schaltete verschiedene sportliche Leiter zu: Matteo Tosatto von Ineos Grenadiers zum Beispiel, aber auch BikeExchange-Manager Brent Copeland, die alle versicherten, dass sie gern die Etappe in der ursprünglichen Form gefahren wären.

Dabei waren die Straßen auch auf den Fernsehbildern der RAI noch nass. Und die Vorhersagen prognostizierten weitere Niederschläge. Es blieb also ein Restrisiko, dass weder Vegni noch die Fahrer eingehen wollten. »Ihr dürft nicht immer nur mit denen sprechen, die im Begleitauto sitzen, sondern auch mit den Fahrern«, entgegnete der Giro-Chef trocken und verwies auf die Gespräche, die mit dem CPA-Delegierten Cristiano Salvato längst gelaufen waren.

In der TV-Schlacht nach dem Rennen offenbarten sich ganz deutlich die wichtigsten Konfliktlinien im Radsport. Das Fernsehen hatte weniger Übertragungszeit, weil die Etappe später begann und Egan Bernal eine Stunde vor der geplanten Ankunftszeit schon ins Ziel stürmte. Vermutlich ist das der Grund für den Druck auf Vegni. Paradox war zudem, dass sich die Favoriten im Kampf um die Gesamtführung bei den noch immer schlechten Bedingungen einen tollen sportlichen Schlagabtausch lieferten, die RAI aber nicht in der Lage war, die entsprechenden Bilder dazu zu liefern. Ihre Hubschrauber durften nicht in die Luft, und die erdgebundenen Relaisstationen für die Signalübermittlung waren zu schwach. So kam es immer wieder zu Bildausfällen.

Auch zwischen den Teams (als den Arbeitgebern) und den Fahrern (als den eigentlich Werktätigen) offenbarten sich Differenzen. Die meisten sportlichen Leiter befürworteten ein Rennen auf dem ursprünglichen Parcours. Und selbst wenn einige Fahrer später auch auf die Linie ihrer Chefs umschwenkten, soll die Abstimmung unter den Profis über einen Messengerdienst eine Mehrheit für die Verkürzung ergeben haben. Auch die Auskunft von Sieger Egan Bernal, er persönlich wäre gern die lange Etappe gefahren, hätte sich aber nicht gegen die Kollegen stellen wollen, deutete eine Mehrheit im Fahrerlager für die Streichung der Pässe an.

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Giro-Chef Vegni, oft als knallharter Traditionalist geschmäht, zeigte sich in dieser Situation erfreulich offen, konstruktiv und kompromissbereit. Er sprach auch ein Grundproblem des Straßenradsports an: »Wir müssen darüber nachdenken, wie wir angesichts der Klimaveränderungen den Radsport in Zukunft gestalten.« Kälteeinbrüche und Stürme im Frühjahr und Herbst dürften sich tatsächlich häufen. Doch wie reagiert man darauf? »Ich hätte auch mal gern einen Giro im Juli«, präsentierte er einen Vorschlag - jedoch sicher halb im Scherz, denn Vegni weiß: Der Monat ist im Rennkalender fest für die Tour de France geblockt.

Der Giro zeigt: In die Sicherheitsdebatte ist bei einigen Beteiligten neue Kompromissbereitschaft gekommen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Interessenskonflikte gibt es weiter. Das ist nicht das Problem. Die unterschiedlichen Interessenlagen müssen nur artikuliert und dann moderiert werden. Die Debatte, wie dieser Sport in der Klimakrise noch planbar bleibt, muss sogar sehr dringend geführt werden.

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