Gebietsverluste an Taliban noch vor Abzug

Der Truppenabzug destabilisiert Afghanistan. Islamisten übernehmen kampflos einzelnen Bezirk

Mindestens elf Afghan*innen wurden am Samstagabend bei einem Bombenanschlag auf einen Bus in der Provinz Badghis getötet. Unter den Opfern waren nach Behördenangaben vier Frauen und drei Kinder, nachdem ein Sprengsatz detonierte, der zuvor am Straßenrand deponiert worden war. Dabei kam der Bus von der Straße ab und stürzte in ein Tal. Bislang ist unklar, wer für den Anschlag verantwortlich ist. Gouverneur Hessamuddin Schams benennt die Taliban als Verantwortliche. In der afghanischen Hauptstadt Kabul hatte es in den vergangenen Tagen mehrere Anschläge auf Passagierbusse gegeben, zu denen sich die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) bekannt hatte.

Armee und Polizei waren in der vergangenen Woche nicht nur mit Anschlägen konfrontiert. Bei einem wohl fehlgeleiteten Angriff der afghanischen Luftwaffe wurden mindestens 13 Sicherheitskräfte getötet, als in der Provinz Badachschan Taliban bekämpft werden sollten.

Bis zum Sonntag fielen innerhalb weniger Tage gleich drei Bezirke an die Taliban: In der Provinz Nuristan im Osten des Landes wurde der Bezirk Doab kampflos übergeben. Nach dreiwöchiger Belagerung, in der die Versorgung der afghanischen Sicherheitskräfte mit Nahrung und Munition abgeschnitten war, musste der Bezirk aufgegeben werden. »Sie riefen am Abend an und sagten, sie hätten keine Wahl gehabt«, so der Parlamentarier Ismail Atikan. Nach Verhandlungen mit den Ältesten in der Region und den Taliban hätten diese einen friedlichen Abzug zugesagt. Nach heftigen Gefechten fielen im Süden des Landes auch die Distrikte Schenkai in der Provinz Sabul und Gisab in der Provinz Urusgan. »Die Taliban wollen den militärischen Druck hochhalten, die Regierungstruppen beschäftigen und vielleicht auch durch Überlastung demoralisieren«, ordnet Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network im Interview mit der dpa ein. Nach UN-Angaben sind 50 bis 70 Prozent des Territoriums abseits der afghanischen Großstädte umkämpft und sieben der 400 Bezirke wurden seit Mai unter Talibankontrolle gebracht. Es handle sich aber eher um periphere Gebiete. Ruttig will daher noch keinen »großen Marsch« der Taliban an die Macht erkennen.

In Deutschland erteilte das Bundesinnenministerium der Forderung nach einem sofortigen Abschiebestopp eine Absage. Menschenrechtsorganisationen und Sozialverbände hatten den Abschiebestopp als Reaktion auf eine Studie der Diakonie und der Organisation Brot für die Welt gefordert. Im Rahmen der Studie wurden 113 der 908 zwischen Dezember 2016 und März 2020 abgeschobenen Afghanen befragt. »In eine zusehends eskalierende Lage, bei der die Taliban mit Terror und Attacken den Abzug der Nato begleiten, darf niemand abgeschoben werden«, so Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhard.

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