Naiv, nett oder eiskalt?

Berlinale Forum: In «Anmaßung» fragen Stefan Kolbe und Chris Wright, welches Bild wir uns von einem Mörder machen

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine schöne Aussicht haben wir hier«, sagt eine Stimme aus dem Off. Zu sehen ist ein Mann, der auf einem Stuhl sitzt und aus dem Fenster schaut. Der Kamera hat er den Rücken zugewandt. Stefan S. will nicht erkannt werden. Er ist der Protagonist des Dokumentarfilms »Anmaßung« von Stefan Kolbe und Chris Wright. Oder ist es nicht er selbst, sondern das Bild, das wir uns von ihm machen? So zumindest erklären es die beiden Regisseure. Denn was wir von Stefan S. erfahren, sind Bruchstücke eines Lebens: eigene Erzählungen, Einschätzungen des Therapeuten, Einblicke in die Prozessakte.

Stefan S. ist ein Mörder. Vor 15 Jahren hat er eine junge Frau umgebracht und sitzt seitdem im Gefängnis. So viel verrät der Film schon relativ zu Beginn. Was genau passiert ist, erfahren die Zuschauer*innen sehr viel später - und haben so Zeit, sich ein eigenes Bild zu konstruieren.

Die Filmemacher lernten Stefan S. in einer Gruppentherapie-Sitzung in einem Brandenburger Gefängnis kennen. Dort begegnen sich in einem Stuhlkreis acht Gewalt- und Sexualstraftäter. Der erste Eindruck des Filmteams von Stefan S.: »Er redet viel von Essen, vergleicht sich mit einem Braunbären.« Er sei still und zurückhaltend, wirke naiv und nett. Ein Justizbeamter kommentiert diesen Eindruck mit den Worten: »Stefan S.? Das ist ein eiskalter Frauenmörder.«

»Anmaßung« lässt solchen Widersprüchen und Ambivalenzen Raum, will sie nicht ausräumen, sondern zeigt, wie sich die Vorstellung über einen Menschen durch unterschiedliche Informationen und Eindrücke formt. Wie aber machen wir uns ein Bild von einem Menschen, dessen Gesicht wir nicht sehen? »Was sehen wir, wenn wir nichts sehen können?«, fragen die Regisseure im Film. Wie gehen sie mit einem Protagonisten um, der sich entzieht und wenig preisgeben will? Und bei dem man nicht weiß, was von dem, was er erzählt, wirklich geschehen ist?

Kolbe und Wright behelfen sich mit einer Handpuppe, die Szenen aus dem Leben von Stefan S. nachstellt. Dabei treten auch die zeitweise unsichtbaren Puppenspielerinnen vor die Kamera. Der Film fängt ihren Auseinandersetzungsprozess mit der Figur des Stefan S., mit seinen Erzählungen und mit seiner Tat, ein.

Die Puppe mit ihrem leuchtend roten Pullover, ihren stechend blauen Augen, ihrem kahlen Kopf und ihrer gerunzelten Stirn wird zu Stefan S., dem Mörder. Sie wird aber auch zu Stefan S., dem Kind, das in seinem Bett liegt und an die kleinen herumflitzenden Mäuse denkt, die es von seinen Eltern geschenkt bekommen hat. Die beiden Frauen lassen die Puppe zum Leben erwachen, begleitet von symbolischen Bildern und Musik, die eine wichtige Rolle im Film spielt. Dadurch bekommt »Anmaßung« eine zusätzliche, sehr wirkungsvolle und fantastische Ebene, die einen Gegensatz zu den trostlosen Bildern leerer Stuhlkreise und grauer Mauern bildet.

Auch die Auseinandersetzung der Filmemacher selbst mit ihrem Protagonisten spielt eine Rolle. Sie hinterfragen sich und ihr Projekt, als die Beziehung zu Stefan S. enger zu werden scheint. Immer wieder begleiten sie ihn bei seinen Ausgängen und zeigen ihm Berlin. Wie viel Abstand können sie wahren? Was sieht Stefan S. in ihnen? »Die Vorstellung, dass wir für ihn so etwas wie Vertraute oder Freunde sind, macht uns Angst«, sagen die Regisseure.

Sie betreiben eine Spurensuche, fahren zum Tatort, filmen das Haus seines Opfers, die unscheinbare Einfahrt. Und doch bleibt der Mann, der seiner Entlassung aus dem Gefängnis entgegensieht, irgendwie fremd - auch weil die brutale Tat so unverständlich erscheint.

Wer kann sagen, was damals wirklich passiert ist - und warum? Psychologen könnten gut spekulieren, sollten sich aber nicht anmaßen zu sagen, wie es wirklich gewesen ist, sagt der Gefängnispsychologe im Film.

Wieso passiert so etwas? Warum werden Menschen zu Mörder*innen? Das sind Fragen, die sich unweigerlich stellen. Stefan Kolbe und Chris Wright versuchen glücklicherweise nicht, sie umfänglich zu klären, sondern laden die Zuschauer*innen zur Auseinandersetzung ein, die neue Fragen aufwirft.

»Anmaßung«: Deutschland 2021. Regie und Buch: Stefan Kolbe und Chris Wright. Termin: 13.6., 21.30 Uhr, Frischluftkino@Studentendorf.

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