Das Gesundheitswesen muss epidemiesicher sein

Der Sozialmediziner Heinrich Niemann über Lehren aus früheren Influenza-Pandemien für künftige Seuchen

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 7 Min.

Die gegenwärtige Pandemie ist nicht die erste in modernen Zeiten. Ende der 1960er Jahre ging die sogenannte Hongkong-Grippe um die Welt. Die DDR hat danach ein Konzept zur Pandemie-Eindämmung entwickelt. Wie sah das aus?

Das, was 1970 unter dem Eindruck der Hongkong-Grippe verabschiedet wurde, hieß nicht Konzept zur Pandemie-Eindämmung. Das war das »Führungsdokument zur Grippebekämpfung« des Ministers für Gesundheitswesen. Danach wurde sehr schnell eine Ständige Kommission zur Bekämpfung von Epidemien gebildet, die dem Gesundheitsminister unterstand, in der aber alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche vertreten waren. Die Mitglieder wurden vom Ministerpräsidenten ernannt. Damit gab es eine Struktur, die bis in die Bezirke und Kreise der DDR alles Notwendige organisierte. Da gab es dann - im Einzelfall - auch Übungen, bei denen zum Beispiel in Polikliniken auch Notfallbetten aufgestellt wurden.

Interview
MR Dr. med. Heinrich Niemann, Facharzt für Sozialhygiene/Sozialmedizin, arbeitete in der Ostberliner Gesundheitsverwaltung. Von 1992 bis 2001 war er Gesundheitsstadtrat (PDS/Linke) im Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf und Vorsitzender der Krankenhauskonferenz Kaulsdorf.

Wurde in dem Zusammenhang auch am Seuchenschutzrecht etwas geändert?

Die DDR hatte schon Mitte der 1960er Jahre ein ziemlich modernes Seuchenrecht. Was übrigens auch der Bundeszentrale für politische Bildung aufgefallen ist. Weil - und das ist der Unterschied - was jetzt bei der Pandemie-Bekämpfung erst im Nachhinein schrittweise entstanden ist, hier eben von vornherein einheitlich geklärt war. Das ging von den Meldepflichten über die Wege der Eindämmung bis hin zur Isolierung von Erkrankten und vielem mehr.

Heute wird sehr viel über die Zahlen gestritten. Wie verlässlich waren damals die Infektions- und Sterbedaten?

Was die medizinalstatistische Aufarbeitung meldepflichtiger Infektionskrankheiten angeht, und das waren ja mehr als 20 in der DDR, so war das von den 1960er Jahren an einheitlich und flächendeckend gut entwickelt. Die Bundesrepublik zog viel später nach. Das war schon ein Vorteil. Natürlich mit den damaligen diagnostischen Standards.

Wie stand es mit Tests?

Bei Virusgrippe wurden die Erreger im Labor isoliert und nachgewiesen. Sie wurden neben der sehr großen Zahl der akuten respiratorischen Erkrankungen gesondert erfasst. Solche Tests wie heute bei Corona gab es deutlich weniger. Aber zum Beispiel bei Aids hat die DDR eine Million Tests auf den Erreger hin durchgeführt, darunter bei allen Blut- und Samenspenden. Das war damals weltweit einmalig. Bei der Tuberkulosebekämpfung gab es über Jahrzehnte bis Ende der 1960er Jahre die Röntgen-Reihenuntersuchungen.

Welche Rolle spielte im Zusammenhang mit der Grippe die Entwicklung von Impfstoffen in der DDR?

1973 wurde in Berlin-Schöneweide das Institut für angewandte Virologie gegründet, auch um Impfstoffe zu entwickeln. Die DDR hat die meisten Impfstoffe selbst hergestellt. So dass eben - ich habe das dann auch in meiner Arbeit erlebt - die Grippeschutzimpfung Ende der 70er Jahre forciert auch in den Betrieben vorgenommen wurde. Die Betriebe waren in der Pflicht, ihren Beschäftigten mit Hilfe des Betriebsgesundheitswesens eine Impfung zu ermöglichen. Da war bei den jeweiligen Bezirksärzten zu melden, wie hoch die Zahl der Geimpften ist.

Welche Elemente der damals entstandenen Strategien hätten uns denn heute bei der Corona-Pandemie genutzt?

Das fängt an bei einer Gesetzgebung, die vorausdenkend regeln muss, wie im Falle einer Epidemie/Pandemie alles organisiert werden soll, also die Erfassung der Infektionen, Testung, Isolierung Infizierter usw. ...

Und wer das bezahlen muss ...

Ja, das war aktuell einer der Schwachpunkte. Viel Zeit ging verloren, ehe die Finanzierung klar war. Das war in der DDR vom Grundsatz her einfacher, schon weil das Gesundheitswesen staatlich war. Es geht ja nicht nur um den öffentlichen Gesundheitsdienst, die Gesundheitsämter. Aber auch der muss finanziell, technisch und personell epidemiesicher gemacht werden. Dafür sind in Infektionsschutz und Hygienefragen gut ausgebildete Ärzte und Mitarbeiter dringend nötig. Denn die Nachverfolgung der Kontakte bleibt bei einer Pandemie eine sehr wichtige Aufgabe. Auch die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten muss man effektiver gestalten. Darüber hinaus trägt in einer Pandemie nicht nur der Staat Verantwortung, da gibt es auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung.

Das heißt?

Es muss vorgedacht werden, was die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche zu tun haben: Schulen, Kitas, Handel, Kultur ... Und nicht zuletzt die Wirtschaft. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis man nach dem Beitrag der Wirtschaftsunternehmen gefragt hat, etwa durch systematisches Testen der Beschäftigten. Wenn nicht alle gesellschaftlichen Bereiche ihre Rolle dabei spielen, wird das nichts.

Nun sind viele Praktiken der Seuchenbekämpfung nichts Neues. Was von den Regeln aus Rudolf Virchows und Robert Kochs Zeiten ist denn heute noch nützlich?

Eine Seuche ist ein medizinisches Phänomen, eine Infektionskrankheit, und deren Bekämpfung ebenso wie deren Verbreitung folgt bestimmten Regeln. Das fängt mit der sogenannten Infektionskette an, von der Infektion bis zum Empfänger und den Übertragungswegen. Natürlich sind Hygieneregeln vom Händewaschen bis hin zu Abstandhalten bewährte Methoden. Ebenso die Trennung der Infizierten von den Nichtinfizierten - die Quarantäne. Dazu kommen die Impfungen als entscheidendes Mittel, hoffentlich bald auch wirksame Medikamente.

Aber eine ganz entscheidende Schwäche bei der aktuellen Pandemie war aus meiner Sicht, dass man viel zu spät die differenzierte Verbreitung des Virus in den einzelnen Territorien und Bevölkerungsgruppen und unter sozialen Aspekten untersucht hat. Mathematische Modelle können den Blick auf Lebensverhältnisse nicht ersetzen.

Bei der Verfolgung der Infektionsketten?

Ja, nur eben mit ihren Besonderheiten bei den Alten, den Kindern, in den unterschiedlichen sozialen Milieus. Die Inzidenz als überstrapazierte Kennziffer ist bei all ihrer Berechtigung eine ungenaue Beschreibung der eigentlichen Vorgänge. Die Inzidenz beschreibt nicht, wo der Infektionsherd gewesen und wer wirklich erkrankt ist.

Und was wäre die Alternative?

Da gibt es Vorschläge. Etwa die tägliche Anzahl der Covid-bedingten intensivstationären Neuaufnahmen, differenziert nach Patientenwohnort, Alter und Geschlecht. So wäre die sogenannte Krankheitslast, also die wichtige Einordnung in das gesundheitliche Gesamtgeschehen, besser zu beurteilen.

Ein grundsätzlicher Mangel ist aus meiner Sicht auch, dass die Bundesregierung nicht transparent macht, welche Experten mit welchem Mandat die Regierenden beraten. Es scheint, man hat sich auf Virologen konzentriert. Das ist eine Schwäche. Es gibt eine Reihe anderer Fachrichtungen, die man von Beginn an stärker hätte hinzuziehen müssen.

Als da wären?

Epidemiologen. Ebenso Hygieniker, Kinder- und Schulärzte, Pathologen, bis hin zu Psychologen. Diesen Vorschlag hat ja die Bundesärztekammer schon vor Monaten gemacht. Wie sie auch den Vorschlag gemacht hat, einen Pandemie-Rat einzurichten. Das ist bisher nicht aufgegriffen worden. Das muss in Zukunft korrigiert werden.

Zu einem Tempoverlust bei der Pandemie-Bekämpfung führte zudem, dass man aus verschiedenen nichtfachlichen Gründen, etwa der Finanzierung, etliche Schritte zu spät eingeleitet hat: die Tests beispielsweise. Oder dass an Wochenenden manche Kontaktverfolgung nicht funktionierte.

Das mag im Zentralstaat DDR einfacher gewesen sein ...

Es geht nicht nur darum, welche Institution verantwortlich ist. Es gibt Erfahrungen, wie man die Maßnahmen von oben bis unten gut umsetzen kann. Die zum Beispiel bei den Impfzentren gut funktionierten. Und wie man die Maßnahmen bekannt macht. Es kann nicht sein, dass die zuständigen Einrichtungen aus der Presse erfahren, was sie ab morgen machen müssen. Oder das ganze Hickhack über die Einbeziehung der Praktischen Ärzte in die Impfung, der Priorisierungsaufhebung bei unzureichenden Impfdosen.

Für künftige Pandemien muss man über das Gesundheitswesen insgesamt, über seine Struktur, seine Finanzierung nachdenken. Profitorientierte Krankenhäuser taugen dazu wohl nicht. Eine gründliche Auswertung der Pandemie, vielleicht auch als bundesweite wissenschaftliche Konferenz wäre dazu ein guter Beitrag.

Wenn es nicht mehr weh tut, bleibt wohl doch alles beim Alten ...

Das ist die größte Gefahr, jetzt zu denken, es kommt nicht mehr wieder. Die Gefahr, dass wieder Ungewolltes überspringt von der Tier- auf die Menschenwelt, ist groß.

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