Abschied von zwei Töchtern

Berlinale-Panorama-Dokumente: Der Film »North by Current«

Es dauert nicht lange und der Film ist bei essenziellen Fragen angekommen, also genau genommen, stellt er sie gleich an den Anfang: Wie werden wir zu dem, was wir sind? Naheliegend ist: Die Eltern sind schuld, und in den meisten Fällen stimmt das auch. Aber das eigene Leben kann auch eine Emanzipationsgeschichte sein - und davon erzählt der Dokumentarfilm »North by Current« des Regisseurs Angelo Madsen Minax, der als Angela auf die Welt kam.

Madsen Minax musste ab seiner Transition den kräftezehrenden Weg gehen; nicht den, aus einer liebevollen, wertschätzenden Verbindung heraus in die Welt geschickt zu werden, sondern den, auf dem alles zum Kampf wird, weil man für das, was man ist, abgelehnt wird.

Regisseur Angelo Madsen Minax wollte eigentlich einen Film über ein marodes Rechtssystem drehen - am Ende gelingt ihm ein hardcore-intimes Familienporträt, das sich am plötzlichen Tod seiner kleinen Nichte Kalla entlanghangelt, die gerade mal drei Jahre alt wurde. Seine Schwester Jesse und ihr Mann David werden des Kindesmissbrauchs beschuldigt. David soll sogar wegen Mordes ins Gefängnis. Am Ende wird er freigelassen, die Beweislage ist zu dünn. Aber das Stigma »Kindsmörder« wird die Familie nie wieder los.

Minax hat einen poetischen Film gedreht, der sich einfachen Zugängen versperrt. Der Regisseur wird als Angela geboren, die Familie hängt dem mormonischen Glauben an. Die Transition im Film zu thematisieren, wirkt am Anfang bemüht, ergibt aber immer mehr Sinn, bis hin zu dem Punkt, an dem der Film dadurch erst wirklich funktioniert, weil so ein fast schon transzendentes Familienbild entsteht. Manifestiert in einem Dialog zwischen Minax und seiner Mutter, der so auch nur am Ende des Films möglich ist, denn nicht nur der Regisseur stellt sich seinen Dämonen, auch die Familie - zumindest die Mutter - erlebt beim Prozess des Filmens eine Katharsis. Angelo: »Du hast vor meiner Geburt zweimal abgetrieben und mir gesagt, meine Transition sei die Rache dafür. Glaubst du das heute immer noch?« Mutter: »Es tut mir leid, das ich das gesagt habe. Ich liebe dich für das, was du bist.« Der einprägsamste Satz des Vaters hingegen bleibt so stehen: »Ich habe zwei Mädchen in meinem Leben verloren, Kalla und Angela.«

Angelo Madsen Minax wächst in einem Dorf mit 2000 Einwohnern im ländlichen Michigan auf. Fünf Jahre hat er seine Familie beim Trauern mit der Kamera begleitet, ist dafür aus der Großstadt zurückkehrt. Seine Schwester Jesse bekam jedes Jahr nach Kallas Tod ein neues Kind. »Ich habe den Film nur gemacht, weil das der einzige Weg war, mit meiner Familie über die Tragödie zu reden. Ich kann das nur über die Arbeit an einem Projekt«, sagt Madsen Minax über den Film.

Weder geht es in »North by Current« um die komplexen Prozesse einer Geschlechtsanpassung noch um Kritik am engen moralischen Korsett einer fundamentalistischen Religion. Auch Madsen Minax’ geschlechtliche Identität im Verhältnis zum Mormonentum wird nicht thematisiert, was erwartbar gewesen wäre und dem Film eine unangenehme politische Mission gegeben hätte. Es geht schlicht und ergreifend um eine offensichtlich hart vom Working-Class-Leben geprägte Familie mit all ihren Problemen, die den Tod eines Kindes und den damit verbundenen öffentlichen Kreuzzug verarbeiten muss.

Dazwischen schneidet Madsen Minax immer wieder Szenen aus dem Alltag in einer Kleinstadt, die ihren Zenit längst überschritten hat: rostige Brücken und ein heruntergekommenes Sägewerk, eingesperrt zwischen Flüssen und Autobahnen. Eingestreut auch immer wieder alte Familienvideos, die von einer Normalität erzählen, die spätestens verschwand, als Kalla starb, und die nie wieder zurückkehrt. In »North by Current« sehen wir einer Familie beim Wachsen zu - wie sich füreinander öffnet, da wo sonst nur Schweigen und Durchhalten war. Das ist tief bewegend.

»North by Current«: USA 2021, Regie: Angelo Madsen Minax. Termin:

17.6., 21.45 Uhr, Freiluftkino Kreuzberg.

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