»Jeder Klempner hat ein Buch in der Hand«

Für eine gute Ausbildung und gerechtere Lebensverhältnisse zog es junge Menschen aus Nordafrika und Nahost ins sozialistische Lager

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 9 Min.

Das Orient-Institut Beirut hat ein Forschungsprojekt angestoßen zu ehemaligen Stipendiat*innen aus dem Nahen Osten, die in Ländern des sogenannten Ostblocks ausgebildet wurden. Sie Herr Al-Hamarneh sind selbst ehemaliger Stipendiat und der Projektkoordinator. Was versprechen Sie sich von diesem Forschungsprojekt?

Auf Englisch klingt der Projekttitel aussagekräftiger: »Relations in the Idioscape«. Idioscape ist ein Konzept, das zeigt, wie verschiedene Beziehungen in der Globalisierung entstanden sind. Es entstand in den 90er-Jahren, wir versuchen dies auf die Zeit des Kalten Kriegs zu übertragen, als Wissensbeziehungen in einem ideologischen Raum entstanden - durch Bildung, Kultur und Wissen im breiten Sinne. Dabei kam es zum weltweiten Austausch mit Menschen in einem ideologischen Raum. Das existierte auch auf der anderen Seite, im Westen, nur mit anderen Ideen.

Ich hoffe, dass wir durch dieses Projekt die Facetten dieser Zusammenarbeit zeigen und verstehen können. Tausende junge Leute sind damals durch ein Stipendium in ein anderes Umfeld gekommen. Manche sind reich, manche arm, manche kommen vom Dorf, manche aus internationalen, großen Städten wie Kairo oder Beirut. Sie haben verschiedene Erwartungen, aber was sie alle geeint hat, ist, dass sie dort studiert haben, egal ob sie Kommunisten waren oder Linke, Nationalisten oder apolitisch; die absolute Mehrheit war apolitisch. Unsere Leitfrage ist: Was ist da gelaufen, welche Beziehungen entstanden, was ist heute davon übrig geblieben, welche Lebenserfahrungen haben sie gehabt? Unser Hauptziel ist, die Lebenswelten und die Wissensbeziehungen der nahöstlichen Studierenden im sozialhistorischen Kontext zu untersuchen.

Interview

Ala Al-Hamarneh (unten) kommt aus Jordanien und lebt in Mainz. Mona Ragy Enayat stammt aus Ägypten und wohnt in Leipzig. Beide gehören zu den Tausenden Studierenden aus dem Nahen Osten, die mit einem Stipendium in einem Land der sozialistischen Welt, dem sogenannten Ostblock, studiert haben. Während es den Geografen Ala Al-Hamarneh nach Bulgarien und in die Ukraine zog, machte sich die Künstlerin Mona Enayat auf den Weg in die DDR. Warum Sie diesen Weg einschlugen und was sie dabei erlebten, darüber sprach mit ihnen Cyrus Salimi-Asl.

Sie sind 1979 nach dem Abitur zum Studium nach Bulgarien gegangen. Warum?

Ich habe mein Abitur mit 16 gemacht und wollte Medizin studieren. In Jordanien gab es damals nur sehr begrenzte Möglichkeiten, Medizin zu studieren. Das war ein neuer Fachbereich und ich habe keinen Studienplatz bekommen. Ingenieurwissenschaften wollte ich nicht. Durch familiäre Beziehungen bekam ich dann ein Stipendium in Bulgarien.

Was waren das für familiäre Beziehungen? Und warum gerade Bulgarien?

Zwei Onkel waren sehr aktiv in der kommunistischen Partei, die damals noch im Untergrund arbeiten musste. Sie wurde erst zehn Jahre später legal, Ende der 80er-Jahre. Durch die jordanische-bulgarische Freundschaftsassoziation und durch die Partei gab es die Möglichkeit, ein paar Stipendien zu bekommen.

Frau Enayat, Sie sind 1988 aus Ägypten nach Leipzig gekommen, nachdem Sie in Kairo an der Akademie der Feinen Künste ein Studium der Malerei, Kunstgeschichte und Theaterdekoration abgeschlossen hatten. Was verschlug Sie nach Leipzig? Hatten Sie eine spezielle Beziehung zur DDR?

Mein Vater ist ein bekannter Schriftsteller gewesen. Bei der Internationalen Buchkunstausstellung (IBA) 1982 in Leipzig ist er für das beste Kinderbuch ausgezeichnet worden. Mein Traum war dann, Buchillustration zu studieren. Von der Liga für Völkerfreundschaft erhielt ich ein Stipendium, und die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig ist die einzige, auf Buchkunst spezialisierte Akademie. Ich hatte mich auch an der Kunstakademie München vorgestellt, fand aber in Leipzig eine höhere Qualität der technischen Ausstattung und Spezialisierung als im Westen.

Hatten Sie auch politische Beweggründe, sich für die DDR zu entscheiden?

Als junger Mensch habe ich immer nach einem Ort gesucht, wo es gerechter zugehen könnte. Als Ägypterin habe ich beide Systeme kennengelernt: das sozialistische durch Gamal Abdel Nasser und dann die Politik der offenen Tür von Anwar Al-Sadat. Ich suche nach Gerechtigkeit, Toleranz und den Menschenrechtswerten - bis heute. Ich war nicht politisch engagiert im eigentlichen Sinne, aber ich habe nicht einfach Ja gesagt zu allem.

Wie war das denn für Sie, Herr Al-Hamarneh, als Sie ankamen in Sofia. Was ist Ihnen im Gedächtnis geblieben?

Bulgarien ist sehr mediterran: Das Wetter, das Essen, die Natur, die Menschen, das Temperament, da brauchte es keine großen Umstellungen, um sich anzupassen. Es war alles sehr unkompliziert, sehr gut organisiert. Ich bekam direkt ein Zimmer in einem Wohnheim mit zwei anderen Jordaniern, die später alle Medizin studieren sollten. Es waren angenehme, saubere, schöne Wohnheime, jedes Zimmer hatte sein eigenes Bad, aber das Problem war, dass wir zu dritt waren. Das waren die ersten Erfahrungen mit dem Erwachsensein. Ansonsten war Bulgarien easy-going. Essen war ausreichend vorhanden, von der Knappheit, die ich später in anderen sozialistischen Ländern erfahren habe, war in Bulgarien nichts zu spüren.

Haben Sie auch negative Erinnerungen?

Am Anfang nein. Bulgarien war sehr offen Anfang der 80er Jahre, das habe ich später erfahren. In Sofia gab es viele Übersetzungen westlicher Filme: Ich habe Bertolucci in Bulgarien gesehen und »Hair« von Miloš Forman; Literatur wurde übersetzt etc. Wie ich später erfahren habe, war das eine kurzfristige kulturelle Öffnung, eingeleitet von der Tochter des damaligen Präsidenten, Schiwkowa, die viele kleine Nischen in Bulgarien geöffnet hat. Dazu kamen das Meer und die wunderbaren Strände: Für einen 17-, 18-jährigen Jordanier, der damals das erste europäische Land besucht, konnte man wirklich sehr gut leben, ohne große Konflikte.

Frau Enayat, wie haben Sie das Ihre Ankunft in Leipzig erlebt, was ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Mir fiel auf, dass die Leute schon um vier Uhr früh auf der Straße waren und mit der Straßenbahn fuhren; das war für eine Ägypterin sehr unüblich, dass die Leute so früh aktiv sind. Alles war dunkler als im Westen, die Atmosphäre anders, aber das hat mich überhaupt nicht gestört, auch nicht der Mangel an Waren. Ich fand die Menschen faszinierend, wie gebildet sie sind, wie jeder Klempner ein Buch in der Hand hat. Bis ich dann besser verstanden habe, wie dieses Volk funktioniert, die Diktaturerscheinungen, die eingeschränkte Reisefreiheit und die politischen Häftlinge usw. Da entschloss ich mich, regelmäßig bei den Montagsdemos mitzulaufen.

Anfangs gab es ja den Willen, die DDR zu reformieren. Hatten Sie selbst schon eine Meinung dazu: Wiedervereinigung oder lieber doch eine reformierte DDR?

Als Studentin zu DDR-Zeiten habe ich eine hervorragende Ausbildung bekommen. Wir sind auch nie zu irgendetwas gezwungen worden, wir hatten die Freiheit zu sagen und zu malen, was wir gut fanden. Das ist eine Seite. Selbstverständlich gab es zu DDR-Zeiten so viele Elemente, die einfach nicht möglich waren, wie die Reise- und Meinungsfreiheit. Da sind viele Wunden in diesem System. Gleichzeitig darf man die Geschichte nicht vergessen: Ich bin sehr dagegen, dass alle Spuren der DDR beseitigt werden, so vergessen wir diese Geschichte und sie kehrt irgendwann mal zurück, ohne dass wir es merken. Ein Bild von Marx auf der Straße, das gehörte zu diesem Staat, zu diesem Leben. Warum soll das alles abgeschafft werden? Das ist das Hauptproblem beim Lauf der Geschichte in allen Epochen: Ein Pharao wird weggeschafft, um den nächsten aufzubauen.

Herr Al-Hamarneh, Sie sind 1984 in die Sowjetunion gegangen, in die Ukraine. War das eine große Umstellung für Sie?

Eine sehr große Umstellung. Das war ein ganz anderes Land. Ich war für den Sprachunterricht nicht direkt in Kiew, sondern in Belgorod zwischen Charkow und Kursk, an der ukrainisch-russischen Grenze. Da gab es zwar keine Knappheit an Lebensmitteln, aber mangelnde Vielfalt. Das war total anders als in Bulgarien. Meine letzten Jahre in Bulgarien wohnte ich zur Untermiete, es war angenehmer, außerhalb vom Wohnheim zu wohnen. Die Sowjetunion war anders. Die Bewegungsfreiheit war eingeschränkt, man durfte die Stadt nicht verlassen als Student, nur im Radius von 30 Kilometern, ansonsten musste man einen Antrag stellen mit Begründung: wohin, warum? Das war umständlich. Und Belgorod war nicht Kiew oder Moskau, da gab es eine Knappheit bestimmter Konsumgüter und Lebensmittel.

Als die Sowjetunion zusammenbrach, was ging Ihnen da durch den Kopf? Dachten Sie an eine Rückkehr nach Jordanien?

Die letzten Jahre unter Gorbatschow waren sehr spannend für mich. Ich erinnere mich, dass ich am Nachmittag in der Bibliothek immer Bücher gelesen habe, nicht Geografie, sondern Politikwissenschaften, Philosophie, etc. Wer war Bucharin, wer war Rosa Luxemburg, was waren die Diskussionen? Das war eine sehr spannende Zeit. Ich habe mich entschieden, die Aspirantur zu machen, um den Doktortitel zu bekommen. Das Diplom war für mich nicht ausreichend. Ich dachte damals vor allem an meine berufliche Karriere.

Gab es in der Ukraine seinerzeit so eine aufgeladene, nationalistische Stimmung, wie nach dem Mauerfall in Deutschland? Mit rassistischen Übergriffen?

Genau, das begann 1990, wurde dann stärker. 1992 konnte man klare Gruppierungen ausmachen, auch wenn sie klein waren. Dann kam auf der Straße dieser vulgäre Nationalismus: rassistische Übergriffe, Neonazi-Symbolik, Aussprache, Rhetorik. Das waren sehr kleine Gruppen, aber die waren sehr laut. Und sie waren gefährlich, weil sie gewalttätig waren. Es gab Angriffe auf die Wohnheime der Studenten, ich wohnte nicht mehr im Wohnheim, ich wohnte in meiner privaten Wohnung, gemietet, aber es gab Angriffe vor allen Dingen auf Afrikaner, aber auch auf alle anderen, die nicht sehr europäisch aussehen.

Rund um den Mauerfall hatten die Menschen häufig das Wort Deutschland im Mund, oft lautstark und in Abgrenzung von Migranten. Es gab ja auch zahlreiche rassistische Überfälle auf Migranten. Wie haben Sie das erlebt, Frau Enayat?

Ich habe das sehr stark erlebt und erlebe das immer noch tagtäglich. Es hat sich nicht verbessert. Und man erlebt das jetzt noch zunehmend aufgrund der falschen Politik. Als ich nach der Wende mit zwei Diplomen und Meisterschule und vier Sprachen zum Arbeitsamt gegangen bin, um mich anzumelden, hat der Jobvermittler auf mein Haar und meine schwarzen Locken gezeigt und gesagt: »Erst wenn alle Deutschen und alle Europäer einen Job haben, dann kommen Sie an die Reihe und ich kann sie vermitteln.« Deshalb habe ich ein Projekt initiiert, das heißt »Unsere bunte Welt« zu interkultureller Erziehung und Friedenserziehung; ich habe das in allen Schulen in Sachsen verbreitet und leite es immer noch. Ich habe 22 Bücher gemacht, acht Bücher übersetzt. Ich gebe nie auf mit den künstlerischen Sprachen, die ich beherrsche: Komponieren, Schreiben, Singen, Malen, Unterrichten, Projekte machen, weil ich sage: Wenn mein Schicksal entscheidet, dass ich in einem anderen Land lebe, dann muss ich eine Brücke für menschliche Werte sein und nicht einfach eine Einwohnerzahl.

Studierende aus dem Nahen Osten im Ostblock

Der Kalte Krieg wurde bisher vor allem als politischer und militärischer Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion betrachtet. Dabei war die Konkurrenz zwischen den beiden weltanschaulich konträren Systemen auch ein Wissenswettbewerb. Insbesondere die vielfältigen Beziehungen der Staaten des Ostblocks mit Ländern der sogenannten Dritten Welt sind bislang kaum berücksichtigt worden. Mit der Öffnung der Archive in Russland und anderen osteuropäischen Ländern ist es jetzt möglich, mehr über die arabischen, iranischen und türkischen Studierenden zu erfahren, die zwischen den 1950er-Jahren und 1991 in diesen Ländern studierten. So waren 1989 über 21 000 arabische Studierende an Hochschulen der Sowjetunion eingeschrieben, in der DDR waren es knapp 2000.

Ein internationales Forschungsprojekt des Orient-Instituts Beirut (OIB) unter Leitung von Prof. Birgit Schäbler beleuchtet diese komplexen Beziehungen, die durch die Migration von Studierenden aus dem Nahen Osten und Nordafrika in die osteuropäischen Staaten entstanden sind, und die mitunter weit über das Ende des Kalten Krieges hinaus erhalten blieben. Studierende, die in ihre Heimatländer zurückkehrten, brachten nämlich nicht nur erworbenes Wissen und Können mit, sondern auch zahlreiche soziale Beziehungen. Das DDR-Museum Berlin zeigt bis zum 23. Juni in Zusammenarbeit mit dem Orient-Institut Beirut die Ausstellung »Vom Nahen Osten in den Ostblock - Studentische Lebenswelten im Kalten Krieg«, die von einer Veranstaltungsreihe begleitet wird.

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