• Politik
  • Kommunistische Partei Chinas

Partei mit Widerspruch

Der Sinologe Felix Wemheuer über 100 Jahre Kommunistische Partei Chinas

  • Alexander Isele
  • Lesedauer: 7 Min.

Mit dem 100-jährigen Parteijubiläum der Kommunistischen Partei Chinas feiert die Volksrepublik zugleich das Erreichen des ersten Ziels des von Parteiführer Xi Jinping formulierten »Chinesischen Traums«: das Ausradieren extremer Armut im Land. Für das nächste große Jubiläum – 2049 wird die Volksrepublik 100 Jahre alt – strebt Xi an, dass China eine voll entwickelte Industrienation und eine sozialistische Gesellschaft sein wird. Nun wird erst mal gefeiert.

Die KPCh hat unbestreitbar große Erfolge erzielt, in erster Linie nach den Maßstäben einer Entwicklungsdiktatur für eine nachzuholende Industrialisierung. China war 1949 eines der ärmsten Länder und in einer peripheren Position im kapitalistischen Weltsystem. Heute ist es ein Land mittleren Einkommens im globalen Vergleich und eine Großmacht. Große Rückschläge wie die Hungersnot des »Großen Sprungs nach vorne« (1959-1961) oder die Kulturrevolution (1966-1976) sieht die Parteiführung wohl nur noch als »Kollateralschäden« auf dem Weg zum Erfolg.

Felix Wemheuer
Felix Wemheuer ist Professor für Moderne China-Studien an der Universität zu Köln. An der Volksuniversität in Peking hat er »Geschichte der KPCh« studiert. Im April erschien der von ihm herausgegebene kritische Reader »Marktsozialismus: Eine kontroverse Debatte« (Promedia, 176 S., 12,90 €). 2019 erschien sein Buch »Chinas große Umwälzung: Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem« (PapyRossa, 219 S., 16,90 €). An diesem Donnerstag hält er um 19 Uhr im nd-Gebäude für die Rosa-Luxemburg-Stiftung einen Vortrag zum Thema »100 Jahre Kommunistische Partei Chinas: Was bleibt vom sozialistischen Erbe?« Anmeldung erforderlich, www.helle-panke.de (hofkino.berlin, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin. Kosten: 2 €) Mit ihm sprach Alexander Isele.

Zum 100-jährigen Jubiläum gibt es ein neues Lehrbuch zur Geschichte der KPCh, dazu eine landesweite Lernkampagne zur Parteigeschichte. Wie sollte laut Xi Jinping auf die Geschichte der Partei geblickt werden?

Das neue offizielle Lehrbuch »Eine kurze Geschichte der KPCh« orientiert sich bei der Bewertung der Mao-Ära an der Zentralkomitee-Resolution von 1981. Nach dem Tod von Mao Tse-tung sah sich die Parteiführung gezwungen, eine neue Interpretation der Geschichte seit der Gründung der Volksrepublik 1949 vorzulegen. Während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 waren Fraktionskämpfe innerhalb der KPCh unter Beteiligung der Bevölkerung in einen Bürgerkrieg eskaliert. Nun wird der Darstellung der Verfolgung von Parteikadern und Bürger*innen während der Kulturrevolution jedoch deutlich weniger Raum eingeräumt. In dem offiziellen Lehrbuch zum 90. Jahrestag der Parteigründung wurden die Hungersnot und die »außergewöhnliche Sterblichkeit« während des »Großen Sprungs« noch erwähnt. In dem neuen Lehrbuch wird nur von »ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten« gesprochen, die durch »linke Fehler«, Naturkatastrophen und den Vertragsbruch der Sowjetunion ausgelöst worden seien.

Die bisherige neunjährige Amtszeit Xis nimmt mehr als ein Viertel des Buches über die Geschichte von 100 Jahren ein.

Es ist offensichtlich, dass sich Xi als größter und wichtigster Parteiführer in der Geschichte der KPCh darstellen lassen will. Die Erzählung ist so konzipiert, dass die Entwicklung von der Gründung 1921 auf die Verwirklichung des chinesischen Traums unter Führung von Xi logisch hinausläuft. Das steht natürlich auch im Zusammenhang mit der faktischen Abschaffung der kollektiven Führung der Partei und der Aufhebung der Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten. Auseinandersetzungen um den konkreten Inhalt des Modells des Sozialismus spielen in dieser Parteigeschichte hingegen kaum eine Rolle.

In der Geschichte der KPCh ist der Begriff Widerspruch prominent – Mao nutzte ihn, die Reformer um Deng genauso wie Xi nun auch. Was eint diese Führer in dieser Sichtweise, was trennt sie?

»Widerspruch« ist ein sehr wichtiges Konzept in der Ideologie der KPCh. Dabei wird zwischen Haupt- und Nebenwidersprüchen unterschieden, die aber ihren Platz wechseln können. Das ist ein sehr dynamisches Konzept, das sich von starrer Orthodoxie unterscheidet. So war es etwa den Reformer*innen um Deng Xiaoping nach 1978 möglich, Reformen politisch zu rechtfertigen: Der »Hauptwiderspruch« in der sozialistischen Gesellschaft sei nicht, wie Mao fälschlicherweise definiert habe, im Klassenkampf zu suchen, sondern im Widerspruch zwischen den noch unterentwickelten Produktivkräften und den unbefriedigten Bedürfnissen des Volkes. Damit wurde der Fokus auf die wirtschaftliche Entwicklung gelegt und die Abschaffung von »positiver Diskriminierung« von Arbeiter*innen und Bauern und Bäuerinnen theoretisch begründet.

Auch wenn die Regierung ihr Ziel erreicht haben mag, absolute Armut zu beenden, und eine breite wohlhabende urbane Mittelschicht entstand, so nimmt doch die Ungleichheit in China beständig zu, die Zahl der Milliardäre wächst. Ist das der Abschied von der Revolution?

Laut Xi ist der Hauptwiderspruch der chinesischen Gesellschaft heute der Widerspruch zwischen den ständig wachsenden Bedürfnissen der Bevölkerung nach einem schönen Leben und der unausgewogenen Entwicklung. Eine Rückkehr zum Klassenkampf der Mao-Ära soll es jedenfalls nicht geben. In der Regel betreibt die Soziologie in China keine marxistische Klassenanalyse mehr, sondern bezieht sich auf Schichtenmodelle aus den westlichen Sozialwissenschaften – wenn überhaupt, kommt die Arbeiter*innenklasse nur noch in Sonntagsreden vor.

Schon Deng Xiaoping wagte es nicht, mit Mao vollständig zu brechen. Xi erklärt, dass die Mao- und die Reformära zur Geschichte des chinesischen Sozialismus gehören und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Worum geht es Xi dabei?

In der Bevölkerung und in der Partei gibt es eine große Gruppe, die die Mao-Ära in schlechter Erinnerung hat, da sie sehr gelitten hat. Ihr macht Xi klar, dass sie die Erfolge der Mao-Ära nicht negieren darf – das ist auch eine Warnung an liberale Kräfte in der Partei. Andererseits gibt es die Gruppe der (Neo)-Maoist*innen, die in der Politik nach 1978 eine »Restauration des Kapitalismus« sehen. An die geht die Ansage, nicht die Notwendigkeit der »Reform und Öffnung« zu verneinen. Xi will beide Gruppen in die Partei integrieren. In den 1940er Jahren studierte Mao gemeinsam mit Kadern Parteigeschichte, um die »Gedanken zu vereinheitlichen«. Bei den Reformer*innn nach 1978 forderte Deng, »die Gedanken zu befreien«. Unter Xi heißt es nun, »die Gedanken zu befreien, um sie zu vereinheitlichen« – das Ziel der Parteigeschichtsschreibung ist, eine verbindliche Interpretation für alle durchzusetzen.

In Ihrem Buch »Chinas große Umwälzung« schreiben Sie, dass alle Führungsgenerationen der KPCh davon ausgingen, China müsse in wenigen Jahrzehnten vollbringen, wofür der Westen seit dem 19. Jahrhundert Zeit hatte. Wie sind die verschiedenen Generationen diese Aufgabe angegangen?

Zuerst muss gesagt werden, dass es allen Führungsgenerationen um den Wiederaufstieg Chinas geht. Sie sehen das alte China als ein Zentrum der Welt, bevor der Abstieg des Landes durch das Eindringen des Imperialismus nach 1840 eingeleitet wurde. Nach der Gründung der Volksrepublik 1949 setzte Mao auf das sowjetische Modell der Industrialisierung und deren Technologie. Ziel war es vor allem, eine Schwerindustrie aufzubauen. 1958 verkündete die Regierung, sogar England in der Stahlproduktion innerhalb weniger Jahre überholen zu wollen. Die erste schwere wirtschaftliche Krise der Volksrepublik wurde durch die Politik des »Großen Sprungs« verursacht. Vor allem die Überausbeutung der Landbevölkerung für die Schwerindustrie führte zum Einbruch der Agrarproduktion und in Folge zu einer Hungersnot mit 15 bis 45 Millionen Toten. Nach dem Bruch mit der Sowjetunion 1960 versuchte China, sich »auf die eigene Kraft zu stützen« und Technologie in Bereichen wie Militär selbst zu entwickeln.

Das änderte sich mit dem Tod Maos.

Die neue Führung um Deng war 1978 der Meinung, China sei wirtschaftlich und technologisch im globalen Vergleich zurückgefallen. Die Reintegration Chinas in den Weltmarkt und ein Technologietransfer aus dem Westen und Japan seien die einzige Möglichkeit, um industriell aufzuholen. Die Reformen waren bezogen auf Wirtschaftswachstum sehr erfolgreich, allerdings um den Preis, dass auch die Gesellschaft in China meiner Meinung nach kapitalistisch wurde.

Das Ziel heute ist, den Westen nicht nur einzuholen, sondern zu überholen ...

... und dabei wird in China oft leider nur nach westlichen Wirtschaftsmaßstäben wie dem Bruttoinlandsprodukt gemessen. Alternativ könnte man mit Bezug auf Marx und Engels auch die Frauenemanzipation zum Maßstab der allgemeinen Emanzipation machen. Der Frauenanteil auf Parteitagen und Volkskongressen ist mit um die 25 Prozent im globalen Vergleich nicht hoch. Im Ständigen Ausschuss des Politbüros der KPCh, dem Zentrum der politischen Macht, gab es noch nie eine Frau. Unter Xi lässt die Regierung wieder ein traditionelleres Frauen- und Familienbild propagieren. Die Frauenbeschäftigungsquote ist in den letzten 30 Jahren gesunken. Nun sollen die Frauen für die Nation wieder mehr Kinder gebären. Kostengünstige öffentliche Betreuung von Kleinkindern gibt es jedoch für die große Mehrheit der Bevölkerung nicht.

Wie sieht es mit der Emanzipation der Arbeiter*innenklasse aus?
Das Ziel hat die Partei meiner Meinung nach komplett aufgegeben. Die Hu-Jintao-Ära von 2002 bis 2012 war geprägt von Streiks, die zum Teil toleriert wurden, wenn sie auf lokaler Ebene blieben. Seit dem Machtantritt von Xi geht der Staat härter vor. Oder nehmen wir den marxistischen Anspruch, langfristig Arbeitsteilung zu überwinden: Die Kluft zwischen geistiger Arbeit und körperlicher Arbeit hat seit 1978 extrem zugenommen. Große Teile der urbanen Mittelschicht verachten sowohl ländliche Wanderarbeiter*innen in der Industrie als auch das neue Dienstleistungsproletariat des Plattformkapitalismus.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal