Menschliche Leidenschaften

»Zweiteiliger Ballettabend«: William Forsythe und Jacopo Godani erkunden die Grenzen der Körper und der irdischen Existenz

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 5 Min.

Leise werden die Zeilen in einer schlichten Melodie gesungen. »Jesus’ blood never failed me yet« (Jesu Blut hat mich niemals im Stich gelassen). Die Aufnahme des simplen Lieds, das im 25-minütigen Musikstück des britischen Komponisten Gavin Bryars über die gesamte Zeit in einer Schleife läuft, bildet die melancholische Atmosphäre der Choreografie auf der Bühne des Festspielhauses in Dresden-Hellerau.

Über die von einem obdachlosen Mann gesungenen Verse legen sich im Verlauf orchestrale Arrangements, die die Stimme sensibel und erhebend begleiten. Die stetige Wiederholung in der Musik verbindet sich mit den wiederkehrenden Bewegungsmotiven in dem Stück »Quintett« von William Forsythe, der zu den bedeutendsten und stilprägenden zeitgenössischen Choreografen zählt. In Duetten begegnen sich hier die fünf Tänzer*innen mal in spielerischer Auseinandersetzung, mal im leidenschaftlichen Ineinanderwerfen.

Die Inszenierung des zeitgenössischen Klassikers, der 1993 uraufgeführt wurde, entwickelte Forsythe unter anderem mit dem Tänzer und Choreografen Jacopo Godani. Fast drei Jahrzehnte später nimmt Godani, der Leiter der Dresden Frankfurt Dance Company, das intime Stück wieder ins Repertoire auf und bringt es mit dem Europäischen Zentrum der Künste in Hellerau an einem Haus auf die Bühne, das eng mit der Arbeit Forsythes verbunden ist.

Seine zugleich vom Ballett ausgehende und mit ihm brechende Bewegungssprache prägt den Tanz der Gegenwart. Im Kollektiv erarbeitete die Kompanie 1993 eine Choreografie, die auf emotionalem und physischem Vertrauen basiert. Das noch heute berührende Tanzstück ist der damals todkranken Partnerin Forsythes gewidmet, der Tänzerin Tracy-Kai Maier. Einander spiegelnd, kriechen zwei Tänzer*innen zu Beginn am Boden, dann streben sie in ihren Bewegungen mit Kraft und Lebendigkeit nach oben. Es ist ein Straucheln, ein Fallen und stets wieder ein Aufrichten. Ein Fluss der Berührungen, der keineswegs von Verzweiflung geprägt ist. Der Choreograf sagt, es sei eine »Hommage an das Leben im Angesicht des Todes«.

Simultan bewegen sich die Tänzer*innen zu zweit oder zu dritt auf der Bühne. Neue Impulse, Repetitionen und Zitate weben sich in einer Komplexität ineinander, dass den Zuschauer*innen ihr Blick als selektiv und somit aktiv gerichtet bewusst wird. Sich immer neu in Beziehung setzende Konstellationen nehmen den Raum ein, der sonst nahezu leer geräumt ist. Ein großer, antiquiert wirkender Projektor steht im Zentrum der Bühne, ergänzt durch einen kleinen Spiegel im Hintergrund. Einzelne verweilen oder warten davor, bis sie ein neuer Bewegungsimpuls erfasst.

Zum Ende des ersten Teils dieser Doppelaufführung unter dem schlichten Namen »Zweiteiliger Ballettabend« wirft der Apparat vorbeiziehende Wolken auf die Rückwand am linken unteren Rand. Die farblose Projektion, vor der sich die hingebungsvolle Carola Sicheri blind in die Arme ihres Duettpartners wirft, öffnet ein Fenster in der Zeit.

Mit geschlossenem Vorhang setzt sich der Sog aus Bewegung und Musik fort. Godani, der ehemalige Tänzer Forsythes, choreografierte den zweiten Teil des Ballettabends in Hellerau. Mit der Dresden Frankfurt Dance Company entwickelte er unter dem Titel »Hollow Bones« (Hohle Knochen) tänzerisches Material, in dem menschlicher und animalischer Bewegungsapparat mutieren.

Nach einer Online-Uraufführung im April war das Stück in der vergangenen Woche erstmals vor Publikum vor Ort zu sehen. In düsterer Stimmung kriechen desanthropomorphisierte Gestalten aus einem Bett aus Moos. Über ihnen steht ein Schäferhund, der die Kompanie den Abend über als Tänzer begleiten wird. Ein wiederkehrendes Motiv eröffnet das performative Ballettstück: In einem langen blauen Abendkleid wiederholt eine Tänzerin die humane Gebärdensprache des Affen Koko, der auf einem Bildschirm vor der Umweltzerstörung durch die Menschen warnt. Im Bild des Gorillas blitzt der Glaube an eine ursprüngliche Intuition auf. Unter dem Saum der mimetisch wiederholenden Tänzerin ragen statt Füßen Hände hervor. Die Körper beginnen zu mutieren. Spinnenartige Krabbeltiere mit sechs Beinen, übergroße Stelzenwesen nehmen die Bühne ein.

»Hollow Bones« schlägt einen Bogen vom kreatürlichen zum disziplinierten Körperwissen und endet in einer posthumanen Geste der Harmonisierung, einem Kuss zwischen Natur und Mensch. Wie der Titel andeutet, findet eine Auseinandersetzung mit den leichten, zuckenden Regungen der Vögel auf der Bühne statt. Dies ist nur ein Versuch der Annäherung an eine künstlerische Entmenschlichung. Musikalisch begleitet von Ulrich Müller, Teil des Musiker- und Komponistenkollektivs 48nord, erforscht die Produktion das Mensch-Werden, Tier-Werden und Ding-Werden.

An den auffallenden Abendkleidern zeichnet sich die Anpassung und Restriktion der Körper ab. Zu Beginn noch eine Erweiterung der prähumanen Wesen darstellend, blättern sie zum Ende als überkommene Struktur von den Körpern. Die Kostüme und das Licht - beides von Godani selbst gestaltet - legen sich als weitere Bedeutungsebenen über die Performance. Selbst in konventionelleren Sequenzen lässt das Licht die Körper zerfallen und befragt so das Bewegungsrepertoire der Tänzer*innen. Das zeichnet sich besonders durch den vom Choreografen entwickelten Umgang mit Spitzentanz aus. Nicht als romantisches Element, sondern als verschmolzene Erweiterung oder posthumane Prothese ermöglicht es einen Umgang mit den Gliedern jenseits einer klassischen Ballettästhetik.

Forsythes ruhige und intime Arbeit bildet einen Kontrapunkt zur spektakulären Uraufführung von Godani. Dabei verblasst keine der Produktionen angesichts der anderen. Vielmehr erweitern sie sich gegenseitig in ihrer Suche nach ästhetischen Kontinuitäten und Brüchen.

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