Rote Katze, schwarze Gedanken

Julia Deck zerlegt die Bionadenidylle

  • Lesedauer: 12 Min.

Sie sind seit dreißig Jahren verheiratet und soeben umgezogen. Außerhalb von Paris haben die Urbanistin und ihr depressiver Gatte endlich ein hochmodernes Eigenheim erworben. Auch die neuen Nachbarn sind überglücklich. Und alle merken zu spät, dass ihre blitzsaubere Ökosiedlung in einer Sackgasse liegt … Um es gleich vorwegzunehmen: Das Schicksal des roten Katers ist schrecklich. Aber das der übrigen Figuren in dieser bitterbösen Geschichte nicht minder. Charles und Eva Caradec sind in die Vorstadt gezogen, um etwas Platz zu haben und im Grünen zu leben. Das Heizsystem wird aus erneuerbarer Energie gespeist, das Abwasser ebenso wie der Kompost recycelt. Und hinter den frisch verputzten Fassaden belauern sich die Nachbarn bald gegenseitig. Sie überwachen und strafen einander, es entstehen Intrigen und Affären. Die gemeinsamen Grillabende können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Versprechen dauerhaften Glücks nicht im Neubaugebiet liegt, und als eine Nachbarin spurlos verschwindet, scheint die Katastrophe unabwendbar.

1

Ich fand es falsch den Kater zu töten - ganz allgemein und auch in diesem speziellen Fall -, als du mir sagtest,was du mit dem Kadaver anstellen wolltest. Es war schon April, sechs Monate, nachdem wir umgezogen waren. Die neuen Häuser glänzten in der Sonne, auf den Dächern glitzerten die Solarzellen, und der Rasen wuchs üppig auf beiden Seiten des Weges. Du hattest mich nach draußen begleitet, wo ich die Ringelblumen vor dem Küchenfenster umtopfte. Die Blätter entfalteten sich unter meinen behandschuhten Fingern, dazwischen pralle Knospen, als könnten sie jeden Moment vor lauter Kraft platzen. Du hattest dir bis in jede Einzelheit überlegt, wie du dem dicken Rotpelz den Garaus machen würdest. Wie du da standest, an die Eingangstür gelehnt, und in aller Seelenruhe deinen Plan vor mir ausbreitetest, wühlte ich einfach weiter in der Erde herum, ohne ein Wort. Zweifellos grübeltest du deshalb so herum, weil du wütend warst, und deine Worte wären genauso folgenlos geblieben, wie wenn du dich darüber aufgeregt hättest, dass ich Fleisch koche oder dass sich am Badewannenrand Kalk abgesetzt hat. Ich verteilte die Wurzeln in der Erde und klopfte sie fest.

Ich glaubte, dass du mich nur provozieren wolltest. Und dass du auf jeden Fall verhindert hättest, dass neugierige Ohren dich hören, wenn du auch nur die geringste Absicht gehabt hättest, es wirklich zu tun. Du wusstest ganz genau, dass hier nichts unbemerkt bleibt. Ja, du hast grundlos Zweifel geschürt, Öl ins Feuer gegossen.

Später, als wir schlafen gingen, dachte ich trotzdem wieder darüber nach, den Kater umzubringen. Ich fragte mich, ob ich es schaffen würde, den Wagen aus der Tiefgarage des Supermarktes zu holen, zum Industriegebiet zu fahren und Rattengift zu kaufen. Im Untergeschoss des Baumarkts zu parken und dabei daran zu denken, ein Lebewesen zu töten - schlimmer noch: es zu ermorden. Mit dem Fahrstuhl bis in die erste Etage zu fahren, den Verkäufer geschickt auszufragen, um genau das Produkt zu finden, das am besten für unsere Zwecke geeignet wäre - als ginge es um Billigsocken vom Discountmarkt. Ich fragte mich, zu welchem Zeitpunkt der potenzielle Mörder zum tatsächlichen Mörder wird und ob ich in der Lage wäre, diese Grenze zu überschreiten.

Am einfachsten wäre es gewesen, wenn du allein hingefahren wärst. Wenn du das Auto genommen und dich selbst um deinen dämlichen Plan, den Kater zu töten, gekümmert hättest. Aber du bist seit Jahren nicht gefahren. Und nur dafür hättest du bestimmt nicht wieder damit angefangen.

In der Dunkelheit malte ich mir aus, wie ich das Gift unter die Fleischklopse mischen und dem Tier verabreichen würde. Wie ich den Blechnapf vor die Gartentür stellen und auf den großen roten Kater warten würde. Ich spürte sein Fell an meinen nackten Armen, wenn ich ihn nach dem Fressen hochnehmen würde. Ich sah vor mir, wie ich ihn in den Keller trug, um ihn hinter verschlossener Tür sterben zu lassen und dann mit dem Kadaver zu machen, was du vorschlugst. Denn es ging nicht nur darum, den Kater zu töten. Es ging darum, unseren Triumph zu untermauern, unseren Aufstieg zum Privateigentum.

2

Am Anfang machte es mir nichts aus, dass du nicht mehr mit dem Auto fahren wolltest. Es stand im Untergeschoss unseres früheren Hauses unbenutzt herum. Wir brauchten es nicht, um uns innerhalb von Paris fortzubewegen. Aber dann habe ich begriffen, dass es nicht allein darum ging. Sondern dass du dich weder jetzt noch irgendwann sonst jemals wieder ans Steuer setzen würdest. An die öffentlichen Verkehrsmittel war gar nicht zu denken. Du fingst an, längere Strecken mit der Metro zu vermeiden, unter dem Vorwand, dass es, objektiv gesehen, äußerst umständlich sei, an der Haltestelle Châtelet oder Montparnasse umzusteigen. Daraufhin hast du dich von der gesamten Untergrundbahn verabschiedet.

Du hattest einen Artikel gelesen, in dem stand, dass die Luft dort unten viel schlechter sei als auf dem Autobahnring. Und schließlich wolltest du nicht freiwillig ersticken. Als ich dir entgegenhielt, dass unser Leben dadurch nicht unbedingt leichter werden würde, suchtest du den Artikel auf deinem Schreibtisch und hieltest ihn mir vor die Nase. Währenddessen schälte ich das Gemüse oder ich räumte den Geschirrspüler ein. Danach waren es die Busse, mit denen du nicht mehr klarkamst. Dein Mittwochstermin bei Serrier wurde zu einem endlosen Martyrium. Du musstest dich stundenlang seelisch darauf vorbereiten, und dann waren die Busse immer zu langsam und voller ungehobelter Leute. Damit stand fest, dass du dich auf unseren Häuserblock beschränken und dir im äußersten Notfall eben ein Taxi rufen würdest. Unsere Wohnung war geräumig und komfortabel, sie reichte von Osten nach Westen und war gut beheizt. Wir hatten eine schöne Büchersammlung. Man konnte hier gut und gern sein Leben verbringen, ohne Unannehmlichkeiten. Unten im Haus gab es sogar einen Fitnessraum. Du warst jeden Morgen dort, um dein Herz und deinen Körper zu stählen, damit ich mich nicht in eine mürrische Ehefrau oder Frühwitwe verwandelte. Der Kompromiss schien annehmbar. Ich hörte auf zu diskutieren.

Das ging ein paar Jahre gut. Aber dann beschlossen wir dennoch umzuziehen. Meine Balkonpflanzen hatten zu wenig Platz. Der Jasmin quoll aus den Töpfen. Die Rosenstöcke verlangten rigoros nach Raum für ihre Zweige. Jedenfalls war es höchste Zeit, eine Immobilie zu erwerben. Ich beschäftigte mich mit Städteplanung. Ich glaubte an die Expansion der Stadt außerhalb ihrer Grenzen, daran, dass es den Menschen im Grünen und in weniger dicht besiedelten Gebieten besser ging. Wir wären weg von Lärm und Luftverschmutzung. In unserem Garten könnten wir unbedenklich tief Luft holen.

Da wir umweltbewusst waren, wollten wir ein Haus, das wenig Energie verbrauchte und aus schönen nachhaltigen Materialien gebaut war. Wir wurden schnell fündig. Am Stadtrand gab es ökologische Neubauviertel. Nach einigen Taxifahrten fiel unsere Wahl auf eine kleine aufstrebende Gemeinde. Sie war an das Pariser Verkehrsnetz angebunden, und die Baufirma malte uns aus, dass auch die Metro bald hierherfahren würde. Wir waren sicher, dass es eine gute Investition war.

Das Projekt, für das wir uns entschieden, war das schönste und teuerste von allen. Eine alte Speicherstadt wurde in ein Wohngebiet für zahlungskräftige Kunden umgewandelt. Dank einer Solaranlage würde die Parzelle hinsichtlich der Energieversorgung vollkommen unabhängig sein. Die Abfälle sollten durch ein unterirdisches Netz automatisch zur Müllverwertungsanlage transportiert werden. Der Biomüll würde in einem Kompostbecken am äußersten Rand der Wohnsiedlung gesammelt werden. So könnte man in jedem Garten ein Gemüsebeet anlegen.

Das Bauprojekt nahm zwei Jahre in Anspruch. In dieser Zeit machten wir uns Gedanken über die Einrichtung. Vier Doppelhäuser, identisch von den Grundmauern bis zum Dach, säumten den Weg. Im Erdgeschoss befand sich eine große offene Küche, die in den Wohnbereich überging. Auf der anderen Seite lag ein von Hecken eingefasster Garten, in den man von einem kleineren Zimmer aus gelangte, wo du dein Büro haben wolltest. Mein Zimmer würde ich in der oberen Etage einrichten, zwischen Bad und Schlafzimmer, das über einen Balkon verfügte, der zur Allee hinausging.

Einige Monate vor unserem Umzug bastelten wir aus Papier kleine Schnittmuster unserer Möbel, um sie auf dem Grundriss zu verteilen. Nach dem Abendessen rollten wir die Pläne auf dem Tisch aus und schoben Bücherregal und Sofa hin und her, um die beste Lösung zu finden. Ich liebte die Vielfalt der liebevoll zusammengestellten Einrichtungsvarianten, wie ich sie aus den großen Möbelgeschäften kannte. Mit einem Lächeln auf den Lippen gingen wir schlafen und träumten davon, wie herrlich es sein würde, unser neues Haus in Besitz zu nehmen und wie glücklich wir über unsere Entscheidung sein würden.

3

Sie kamen eine Woche nach uns. Wir hörten den Umzugslaster vor unserem Schlafzimmerfenster. Plötzlich ging der Motor aus. Man hörte Schritte auf dem Kiesweg. Jemand versuchte, unsere Tür aufzuschließen. Ich zog die Hausschuhe an und ging auf den Balkon. Es war ein klirrend kalter Novembertag. Ich rief ihnen zu, dass sie sich wohl in der Tür geirrt hätten, und ging zurück ins Warme.

Den ganzen Vormittag über schleppten sie Kartons. Ihre Haushälfte füllte sich mit unendlich vielen Gegenständen, im Vergleich dazu hatten wir wirklich wenig. Das fand ich auch, als wir unsere Sachen auspackten. Dreißig Jahre gemeinsames Leben, zusammengefasst in ein paar Tausend Büchern, den unabdingbaren Möbeln und nur wenigen anderen Gegenständen. Wir hingen nicht an Dingen. Wir dachten, sie würden uns einschnüren, unsere Gedanken am Fließen hindern. Doch an jenem Tag, ich war gerade dabei, Geschirr in den Schrank zu räumen, empfand ich ihre Abwesenheit als seltsam schmerzhaft.

Zwischen Fetzen gepolsterter Plastikfolie und Klebebändern musste ich auf einmal weinen. Es überkam mich einfach, ich konnte nichts dagegen tun. Ich versuchte, so leise wie möglich dabei zu sein und schniefte lautlos. Doch trotz aller Vorsicht hast du mich gehört und kamst in die Küche gelaufen, um mir eine Standpauke zu halten. Wir hatten uns diese Entscheidung doch zwei Jahre lang reiflich überlegt. Ich sei inkonsequent. Schließlich verabscheuten wir jede Form von Sentimentalität, genauso wie übertriebene Gefühlsäußerungen. Ich wischte mir die Tränen ab, als es auf einmal an der Tür klopfte. Alle Küchengeräte waren geliefert worden. Elektrizität und Internet funktionierten tadellos. Wir hatten keine Ahnung, wer das sein sollte. Du sahst mich mit einem bohrenden Blick an, der mir klarmachte, dass du die Tür nicht öffnen würdest. Ich ging hin.

An der Schwelle stand eine zierliche, dunkelhaarige Frau in schwarzer Sportkleidung, mit einem kleinen Jungen auf dem Arm. Sie reichte mir eine Babyflasche. »Mikrowelle«, sagte sie entschieden, »dreißig Sekunden, und keine einzige mehr.« Ich nahm die Flasche, so wie man die Werbeprospekte am Ausgang der Metro entgegennimmt, die Geste ist zu kategorisch, als dass man ausweichen könnte. Die Dunkelhaarige folgte mir in die Küche. Du hattest das Weite gesucht, aber ich hörte, wie du in deinem Zimmer auf und ab gingst und nur darauf wartetest, dass sie wieder verschwand. Ich machte mich an der Mikrowelle zu schaffen. Ich wollte sie anschließen, aber sämtliche Steckdosen waren auf einmal verschwunden. Ich fand rein nichts mehr in meiner Küche, dabei hatte ich noch eine Woche zuvor alles wie im Schlaf beherrscht. Wieder stiegen mir Tränen in die Augen.

»Das scheint nicht zu funktionieren«, gluckste die Dunkelhaarige. Sofort bist du wieder aufgetaucht. »Charles Caradec, freut mich, Sie kennenzulernen. Vergessen Sie mal meine Frau, sie steht ein bisschen neben sich.« Die Brünette gluckste wieder, diesmal etwas nervöser. So reagieren junge, empfindsame Frauen immer auf dich. »Annabelle Lecoq«, stotterte sie und zog ihr Händchen aus deiner männlichen Faust. Dann wandte sie sich mir zu, um einen Kaffee zu ordern. »Hier bin ich für den Kaffee zuständig«, hast du verkündet und dich dann ans Werk gemacht. Ohne die Tassen zu beachten, die ich gerade ausgepackt hatte, hast du den Espresso in einen dieser Plastikbecher gefüllt, die wir seit einer Woche recycelten. Danach hast du sie zum Ausgang begleitet - sie, ihren Sohn und sein Fläschchen, das du aufgewärmt hattest, du hast es wirklich geschafft, in dreißig Sekunden und keiner Sekunde länger. »Was für eine blöde Kuh, hoffentlich kriegen wir von ihr und dem Kind nicht allzu viel mit«, hast du gesagt und die Tür geschlossen. Wir brachen in Gelächter aus. Zum ersten Mal löste sich die Anspannung, nach etlichen Stunden, die uns unwirklich vorkamen und in denen wir unaufhörlich versucht hatten, den richtigen Platz für diese Lampe oder jenen Tisch zu finden, um dann doch alles wieder umzustellen. Denn es war viel zu früh, wirklich viel zu früh, um jetzt schon zu wissen, wie wir in diesem Haus leben sollten.

Hand in Hand bewunderten wir unseren Garten. Bis jetzt war es allerdings nicht viel mehr als ein langgezogenes begrüntes Rechteck. Doch dahinter erstreckte sich eine unbebaubare Parzelle, sodass wir den Himmel sehen konnten, lange, blassgelbe Wolkenfasern inmitten des Novembergraus.

In diesem Moment entdeckten wir den dicken roten Kater. Er war gerade über die Hecke geklettert, die uns vom Garten der anderen Doppelhaushälfte trennte. Erst begnügte er sich damit, über den Rasen zu schleichen und daran zu schnuppern, während er uns schräg beäugte. Ich öffnete die Terrassentür, hockte mich hin und schnalzte mit der Zunge. Misstrauisch kam er näher. Am Ende schlich er um meine Beine herum, während ich ihm den Hals kraulte. Der Kater verstand das als Einladung für eine Besichtigung unseres Hauses. Du hast sofort widersprochen. Du hast gesagt, wenn er erst einmal drin sei, würden wir ihn nicht mehr loswerden. Und wenn ich nichts dagegen unternähme, würde ich schon sehen, was ich davon hätte. Ich kraulte ihn weiter am Bauch. Auf deine Prognosen gab ich nichts.

Julia Deck
Privateigentum
Aus dem Französischen von Antje Peters
Wagenbach Verlag
144 S., geb., 18,00 €

Julia Deck wurde 1974 in Paris geboren. Sie studierte Literatur an der Sorbonne, arbeitete für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften und unterrichtet an der Journalistenschule.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal