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Lieber laut als höflich

In Ghana hat feministischer Aktivismus Tradition. Soziale Medien haben ihm in den vergangenen Jahren neuen Antrieb verliehen

  • Clara Zink
  • Lesedauer: 8 Min.

Millionen Menschen haben seit 2017 unter dem Hashtag MeToo ihre Erfahrungen mit sexualisierter Belästigung öffentlich gemacht. Vor allem Frauen aus den USA oder Großbritannien erhoben auf Twitter und Facebook ihre Stimmen - auf dem afrikanischen Kontinent hingegen fielen die Reaktionen deutlich verhaltener aus. Frauen in Afrika seien kaum motiviert, Täter öffentlich beim Namen zu nennen, weil die Kosten dafür zu hoch seien, kommentierte die ghanaische feministische Autorin Nana Darkoah Sekyiamah diesen Umstand in einem BBC-Beitrag und fragte: »Was bringt es, sich zu äußern, wenn es keine Gerechtigkeit geben wird?«

Soziale Medien als Safe Space

Als die MeToo-Bewegung 2017 in Ghana ankommt, ist für die ghanaische Aktivistin Maame Akua Awereba klar, dass die meisten Frauen im Land nur dann über ihre eigenen Erfahrungen sprechen können, wenn jemand eine Plattform für sie schaffen würde. Mit dem Hashtag DearSurvivor (liebe*r Überlebende*r) eröffnet die 31-Jährige deshalb ein Jahr später einen Dialog, der dem von MeToo in seinem Ursprungsgedanken ähnelt, aber mehr Wert auf Anonymität legt: »Ich habe mich für den Hashtag entschieden, weil die Anrede an einen Brief erinnert und ich den Betroffenen anbieten wollte, mir zu schreiben«, sagt sie. Vor allem Frauen und Männer aus Afrika teilen daraufhin mit dem Hashtag ihre traumatischen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt, erzählen aber auch von ihren Bewältigungsstrategien, um mit dem Trauma umzugehen. Viele Menschen schreiben auch Awereba persönlich, diese veröffentlicht anschließend ihre Erfahrungsberichte anonym auf Facebook und Twitter.

In einer Studie aus dem Jahr 2015 gaben 23 Prozent der befragten Männer und 30 Prozent der Frauen zwischen 15 und 60 Jahren in Ghana an, mindestens einmal in ihrem Leben Opfer sexualisierter Gewalt geworden zu sein. Aber nur neun Prozent der Frauen (14,6 Prozent der Männer) wandten sich anschließend als erste Ansprechpartnerin an die Polizei. Viele von ihnen erzählten von schlechten Erfahrungen mit staatlichen Behörden, Verzögerungen bei der Bearbeitung von Fällen und Korruption. In derselben Studie stimmten mehr als 56 Prozent der Männer und 65 Prozent der Frauen der Aussage zu, dass Frauen selbst an ihrer Vergewaltigung schuld seien, wenn sie sich freizügig kleideten (auch in einer EU-Umfrage im selben Zeitraum stimmten ein Viertel der Befragten einer solchen Aussage zu).

Awereba ist bereits in vierter Generation Aktivistin. Ihre Urgroßmutter und Großmutter gingen als leidenschaftliche Panafrikanistinnen für die ghanaische Unabhängigkeit auf die Straße. Awereba nutzt nun vor allem den digitalen Raum für ihren Aktivismus. Dieser sei ein großer Vorteil für den Feminismus, »weil er es uns ermöglicht, in Sicherheit zu bleiben, während wir aktiv werden«, sagt sie. Sie selbst wurde als Kind belästigt und als Teenager Opfer einer Gruppenvergewaltigung: »Ich habe das jahrelang für mich behalten und wollte schließlich dem Schweigen ein Ende bereiten.«

Einen Ort des Austauschs fand Awereba als junge Erwachsene auf Facebook. »Mir wurde bewusst, dass es noch viel mehr Menschen gibt, die eine Geschichte zu erzählen haben und nicht länger schweigen wollen.« Bei »Dear Survivor« geht es vor allem um gegenseitige Unterstützung. Mit »Our Collective Vagina« (OCV) hat Awereba 2018 noch eine weitere Plattform gegründet, bei der es darum geht, laut zu sein: »Die meisten Frauenrechtsorganisationen in Ghana sind sehr höflich, wenn es darum geht, die Dinge beim Namen zu nennen«, sagt Awereba und lacht.

Diese Höflichkeit ist auf eine Depolitisierung und Deradikalisierung von Frauenrechtsinitiativen in Ghana zurückzuführen. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit sorgten Einparteienherrschaft und Militärregime für politische Instabilität und die Unterdrückung von Massenbewegungen im Land - kein sehr fruchtbarer Nährboden für eine starke zivilgesellschaftliche Basis. Hinzu kommt eine zunehmende »NGO-isierung« von sozialen Bewegungen: Die Abhängigkeit von Spenden sorgt zum Beispiel dafür, dass Nichtregierungsorganisationen (NGO) oft nicht übermäßig politisch oder parteiisch agieren können.

Bedrohungen und beleidigende Kommentare löscht »OCV« normalerweise nach maximal einer Stunde von ihrer Facebook-Seite. Mittlerweile arbeitet ein internationales Team an dieser mit - alle davon ehrenamtlich, auch Awereba. Aus dem Internetauftritt von »Dear Survivor« ist wiederum eine größere Initiative entstanden, die auch außerhalb des Internets tätig ist. »Das System, das uns unterstützen soll, tut nun einmal zu wenig«, sagt Awereba. »Solange müssen wir benachteiligten Frauen den Service zur Verfügung stellen, den sie sonst nicht bekommen.«

Zwar hat die ghanaische Regierung 2007 den sogenannten Domestic Violence Act verabschiedet, woraufhin unter anderem die Domestic Violence Victim Support Unit, kurz DOVVSU, eingerichtet wurde: Sie soll Opfer über ihre Rechte informieren und Beweise für eine mögliche Strafverfolgung sicherstellen. Die Befragung von entsprechenden Stellen im ganzen Land ergab jedoch, dass 2015 fast keine Stelle Unterstützungsleistungen effektiv anbieten konnte.

Es fehlte an Personen, separaten Räumen sowie der Ausbildung, auf die Bedürfnisse von Opfern häuslicher Gewalt adäquat eingehen zu können. »Dear Survivor« arbeitet deshalb heute auch mit DOVVSU zusammen: »Wir sind zu einer Art Mittlerfigur geworden zwischen denen, die ein Zuhause, Schutz und rechtliche Unterstützung bieten können, und den Überlebenden sexualisierter Gewalt«, sagt Awereba.

Für Awereba kann Feminismus in Ghana nur etwas erreichen, wenn er intersektional ist - also berücksichtigt, dass eine Person gleichzeitig von mehreren Diskriminierungsformen betroffen sein kann. Auf den Accounts von »Dear Survivor« und »OCV« treten sie deshalb immer wieder auch aktiv für die Rechte der LGBTIQ-Community im Land ein. Gleichgeschlechtlicher Sex steht in Ghana mit bis zu drei Jahren Haft unter Strafe. Queere Menschen werden in Ghana in der Regel nicht aufgrund ihrer sexuellen Identität verhaftet, solange sie diese nicht offen ausleben.

Doch die große Mehrheit der Ghanaer*innen ist christlich und konservativ und lehnt Homosexualität als vermeintlichen Import des Westens ab. Bei einer 2019 veröffentlichten Studie gaben 40 Prozent der befragten LGBTIQ-Personen im Land an, schon einmal Opfer sexualisierter Gewalt geworden zu sein, knapp die Hälfte war schon einmal von physischer Gewalt betroffen. Auf den Domestic Violence Act können sie sich aber nicht berufen, ohne sich dabei potenzieller Diskriminierung und Diffamierung aussetzen zu müssen.

Ansprechpartner*innen ausbilden

Sally (Name von der Redaktion geändert) ist 30 Jahre alt und arbeitet für die ghanaische NGO Courageous Sisters Ghana, die sich für die Rechte von LGBTIQ-Personen - das heißt vor allem von lesbischen, bisexuellen und queeren Frauen und trans Männern - im Land einsetzt und möchte anonym bleiben, um sich nicht in Gefahr zu bringen.

Als jüngstes von vier Kindern wuchs Sally in einer christlichen Familie auf, ihr Vater ist Pastor. »Meine Mutter und ich hatten ständig Streit. Sie wusste einfach, dass ich queer bin.« Mit 24 Jahren wird sie zu Hause rausgeworfen. Sie zieht zu ihrer Cousine und bewirbt sich erfolgreich auf einen Job als Multiplikatorin beim Centre for Popular Education and Human Rights in Ghana. Über ihre Arbeit erhält sie erstmals Kontakt zu anderen queeren Frauen. »Ich fühlte mich wie zu Hause.«

Über WhatsApp gründet sich schließlich eine erste queere Frauengruppe. Das war die Geburtsstunde von Courageous Sisters Ghana. Um öffentlich präsent arbeiten zu können, sind sie seit 2017 offiziell als Frauenrechtsorganisation eingetragen. Häufig erarbeiten sie - gemeinsam mit anderen LGBTIQ-Initiativen - Projektanträge. Ein Projekt ist die Ausbildung queerer Personen als Berater*innen: »Bei psychischen Belastungen und Problemen sind in Ghana meistens Pastoren die zentralen Ansprechpartner«, erklärt Sally. Die ausgebildeten Berater*innen hingegen könnten andere Betroffene vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen in Krisensituationen unterstützen.

Die Organisation LGBT+ Ghana eröffnete im Januar 2021 ein Zentrum als sichere Anlaufstelle für genderqueere, trans, homo- und bisexuelle Ghanaer*innen in der Hauptstadt Accra. Auch Delegierte der EU waren dabei. Kurze Zeit später betonte Ghanas Präsident Nana Akufo-Addo jedoch zum erneuten Mal öffentlich, dass die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe unter seiner Präsidentschaft kein Thema sein werde. Und die Bischofskonferenz der katholischen Kirche von Ghana veröffentlichte eine Erklärung, in der sie die Abschaffung des Zentrums forderte.

Inzwischen musste es tatsächlich schließen, um seine Mitarbeiter*innen zu schützen. »Diese Konfrontation musste an irgendeinem Punkt stattfinden«, kommentiert Sally die Ereignisse. Nach der Schließung des Zentrums wurden sie und viele queere Menschen in ihrem Umfeld bedroht. Die aktuelle Situation zeigt einmal mehr die Chancen und Grenzen einer feministischen Bewegung, die sich vor allem online organisiert: Auf Twitter wurde unter dem Hashtag GhanaGetsBetter ein Online-Protest gegen die Schließung des LGBT+-Zentrums gestartet.

Für Awereba darf es aber nicht beim Online-Aktivismus bleiben: »Uns stellt sich jetzt die Frage: Wie kommen wir von dieser Diskussion, die wir ins Rollen gebracht haben, zu unserem Ziel, dass die Community in Sicherheit leben kann?« Für die Zukunft wünscht sie sich für »Dear Survivor« deshalb ein Büro, in dem alle wichtigen Ansprechpartner*innen zentral versammelt sind.

Sally hat heute wieder ein enges Verhältnis zu ihren Eltern. »Als meine Mutter meinem Vater erzählte, dass ich queer bin, sagte er zu mir: ›Ich liebe dich, egal wer du bist. Lass nur andere Menschen nicht sehen, was du tust.‹« Ihre Organisation Courageous Sisters Ghana möchte sie weiter als reale, geschützte Anlaufstelle ausbauen. Um selbst möglichst vielen Menschen helfen zu können, will sie ihren Doktor in Gemeindepsychologie abschließen und vielleicht Pastorin werden - »um anderen queeren Menschen zu zeigen, dass Spiritualität eine Beziehung ist, keine Doktrin«.

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