Im Sekretariat der richtigen Politik

Leo Fischer über die tiefe Leere des Bundestagswahlkampfs

Es gibt sehr viele Kolumnen, die mit Max-Weber-Zitaten anfangen, und weil alle diese Zitate mittlerweile als bekannt vorausgesetzt werden dürfen, kann sich das geneigte Publikum an dieser Stelle einmal kurz das Lieblingszitat vorstellen. Es ist schließlich Wahlkampf, und Wahlkämpfe sind eine gute Zeit für Max-Weber-Zitate, besonders aus dem Vortrag »Politik als Beruf«.

Aber wäre auch nur irgendein Zitat aus der Sozialwissenschaft des letzten Jahrhunderts geeignet, die tiefe innere Leere dieses aktuellen Wahlkampfes zu beschreiben? Es geht ja nicht einmal darum, die Kandidatinnen an irgendwelchen Erwartungen zu messen - obwohl man in diesem Wahlkampf, dem ersten in der Pandemie, dem ersten im vollen, unabstreitbaren Bewusstsein der globalen Klimakatastrophe, dem ersten in der Bugwelle beispielloser geopolitischer Veränderungen, durchaus ein paar Erwartungen haben könnte.

Aber überhaupt noch Forderungen an die Politik zu haben, wirkt irgendwie altmodisch, unaufgeklärt, hinterwäldlerisch. Es ist doch allen klar, dass es nur darum geht, vier Jahre lang das Marketing des ideellen Gesamtkapitalisten zu stellen, oder? Beziehungsweise eine Symbolfigur aller gleichzeitig vorgetragenen Sachzwänge, deren abstrakte Unausweichlichkeit immer noch von einer menschlichen Stimme verkündet werden muss und nicht beispielsweise vom elektronischen Durchsagengenerator in der Bahn. Letztlich ist es doch auch eine Lifestyle-Entscheidung, oder? Man wählt CDU oder grün, weil man es sich leisten kann; man wählt FDP, wie man auch wieder mit dem Rauchen anfängt, oder SPD, weil man ein schlechtes Gedächtnis hat.

Die neoliberale Entleerung von Politik als sich selbst abschaffende Verwaltung hat dafür gesorgt, dass sie letztlich von niemandem ausgeübt, sondern immer nur gefordert wird. Das führt dazu, dass alle Opposition machen, obwohl alle irgendwie mitregieren. Angefangen hat damit wohl die SPD, die seit Jahrzehnten aus der Regierung heraus gegen sich selbst opponiert; mittlerweile tut es aber auch ein Laschet, der als Ministerpräsident und Chef der Regierungspartei pausenlos Forderungen erhebt, die er sich selbst jederzeit einlösen könnte. Alle gestikulieren hin auf ein leeres Zentrum der Macht, kanalisieren Erwartungen an eine nicht existierende Instanz, die sie selbst auf keinen Fall stellen wollen.

Klassische Politik wirkt so machtlos wie nie, ihr Versagen in Pandemie, Klima, Flut oder Afghanistan ist evident, der Anspruch, es besser machen zu können, wirkt schon vermessen in dem Moment, in dem er formuliert wird. Die Kandidatinnen wissen das und machen deswegen keine Politik, sondern appellieren an sie, als gäbe es noch eine zweite Politik, eine eigentliche Politik, für die sie nur das Sekretariat machen.

Allen Kandidatinnen steht diese systemische Überforderung ins Gesicht geschrieben, jede präsentiert eine andere Variante von Zynismus. Sie müssten buchstäblich die Welt retten, stattdessen werfen sie sich gegenseitig gefälschte Zitate in bedeutungslosen Büchern vor oder die Tatsache, im falschen Moment gelacht zu haben. Ungelenk watscheln sie von einem Fettnäpfchen ins nächste, ihre Gesichter gezeichnet vom tiefen Unwohlsein, sich aufs genau Falsche eingelassen zu haben; ein Gefühl, das sie alle eint und zugleich ihr einzig menschlicher Zug ist. Nicht einmal die Parteien, die gerade erst aus Korruptionsskandalen auftauchen und schon die nächsten vorbereiten, wirken von sich besonders überzeugt - anderswo ließe sich viel angenehmer korrupt sein, und mit weniger Getöse. Zum ersten Mal erlebt man einen Wahlkampf, in dem es den Kandidatinnen peinlich ist, an die Macht zu wollen.

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