Den Geheimdienst im Nacken

Der Arte-Sechsteiler »Die Schläfer« erzählt vom realsozialistischen Kontrollstaat in den letzten Zügen und indirekt von rechtspopulistischen Nachfolgern

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.

Die langen Arme der Tyrannei sind tentakelartige Gliedmaßen. Im eigenen Land ohnehin allmächtig, müssen sich politische, publizistische, zivilgesellschaftliche Gegner uneingeschränkt herrschender Diktaturen von Nordkorea über Russland bis China nicht mehr nur zu Hause vor Konsequenzen ihrer Auflehnung fürchten. Die jüngsten Angriffe von Viktor Lukaschenko auf Oppositionelle jenseits der belarussischen Grenze zeigen, wie weit er seinen Einflussbereich mittlerweile ausdehnt. Kein Wunder – der Diktator hat effiziente Vorbilder im eigenen Dunstkreis. Ein paar fiktive davon kann man nun auf Arte bei der Arbeit beobachten.

Vaclav Vlach zum Beispiel, ein moralisch komplett ruinierter Oberst der tschechoslowakischen Staatssicherheit. Dazu sein Assistent Jan Berg, etwas gewissenhafter zwar als sein Chef, aber nicht aus Überzeugung, sondern aus Pragmatismus. Oder auch Vladimir Volkogonov, KGB-Agent der übelsten Sorte, mit dem es Dissidenten sowjetischer Satellitenstaaten bis vor 32 Jahren besser nicht zu tun bekamen – selbst, wenn sie weit von deren Einflussbereich entfernt waren. Im sechsteiligen HBO-Thriller »Die Schläfer« sind es sogar gute 1000 Kilometer. Dennoch reichen die langen Arme der osteuropäischen Despotie bis tief in den Westen.

Im Londoner Exil nämlich studiert Marie Skalova gerade fleißig Partituren ein, als die Melodie in einen Kleinbus unterm privaten Wohnzimmerfenster der angesehenen Geigerin zu hören ist. Zwölf Jahre, nachdem sie infolge endloser Repressionen fluchtartig Richtung England emigriert war, sitzt ihr der stalinistische Geheimdienst also immer noch im Nacken – was im Sommer 1989 schon deshalb fatale Folgen hat, weil Marie ihren Mann Victor Skala, auch er ein politischer Flüchtling, zum Heimatbesuch überredet.
Es herrscht Tauwetter am Ende des Kalten Krieges.

Von Ungarn über Leipzig schwappt die Revolution bis nach Prag. Während die BBC überträgt, wie DDR-Flüchtlinge über den Zaun der BRD-Botschaft in Prag klettern, reisen die tschechischen Geflüchteten also heimwärts. Ein fataler Entschluss. Denn kaum angekommen in Prag, werden sie Opfer eines Autounfalls, bei dem Victor spurlos verschwindet. Selber an Leib und Seele verletzt, macht sich Marie in einem bis dato vertrauten Umfeld, das ihr bis hin zur eigenen Schwester zusehends feindselig gesonnen scheint, auf die Suche nach ihrem Mann.Es ist der Beginn einer furchtbaren Odyssee.

Nach den Drehbüchern von Ondrej Gabriel inszenieren Ivan Zacharias und Alice Nellis – die bereits für die im postkommunistischen Tschechien spielende HBO-Serie »Wasteland« (2016) verantwortlich sind – eine Verfolgungsjagd im Stile Alfred Hitchcocks. Zwischen Klaustrophobie und Platzangst hetzt die zartbesaitete Musikerin (Tatiana Pauhofova) durch ein dystopisch graues Ostblockland voller unterschiedlich erbarmungsloser rivalisierender Geheimdienstler wie Vlach (Jan Vlasák), Berg (Martin Hofmann) oder Volkogonov (Jevgenij Libeznuk), die ihrerseits eher gegen- als miteinander ums Überleben im beginnenden Machtvakuum kämpfen. Selbst Viktor (Martin Mysicka) hat offenbar Geheimnisse.

Durchs dauernde Wechselspiel der Loyalitäten ist »Die Schläfer« daher im wahrsten Sinne des Wortes ein Lehrstück übers autoritäre Prinzip der individuellen Ohnmacht. Es geht um Vertrauens- und Kontrollverluste, die moderne Diktaturen dank digitaler Durchdringung aller Existenzen weiter perfektionieren. So nostalgisch Kulissen und Kostüme in den Serienjahren 1977 und 1989 sind, so aktuell ist die Botschaft dahinter: Manipulation in Medien und gestreutes Misstrauen machen Untertanen stärker mürbe als Foltergefängnisse – dafür liefern rechtspopulistische Autokratien von Ungarn über Polen bis zur Türkei Belege in nächster Nachbarschaft.

Babylon Paris. Die Serie »Paris Police 1900« zeichnet ein Sittengemälde der Zeit um die Jahrhundertwende – und das gelungener als das deutsche Äquivalent

Wenn fiktionales Fernsehen aus der Vergangenheit so klug von unserer Gegenwart erzählt, dass selbst die Zukunft klarer wird, macht es folglich vieles richtig. Wenn fiktionales Fernsehen indes so aus der Vergangenheit heraus über unsere Gegenwart erzählt, dass die Zukunft ähnlich ängstigt wie Gegenwart und Vergangenheit zusammen, sind Warnhinweise offenbar unerlässlich. »Dieses Programm«, schreibt Arte zu Beginn jeder Folge, »ist nicht geeignet für Kinder, Jugendliche oder empfindsame Zuschauer«. Klingt dramatisch, ist aber Resultat einer beängstigenden Zeit.

»Die Schläfer« in der Arte-Mediathek

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