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Die Idee von Macht auflösen

Edwin Greve will marginalisierten Menschen eine Stimme geben

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 5 Min.

Berlin, das ist für Edwin Greve ein Ort, an dem er sich frei bewegen kann, der relativ barrierearm ist und an dem marginalisierte Menschen Communitys aufgebaut haben, die es zu schützen und zu verteidigen gilt. »Wir haben hier wirklich viele Freiheiten, dürfen uns aber nicht darauf ausruhen, weil das keine Selbstverständlichkeit ist«, sagt der 28-jährige Aktivist für migrantische und queere Themen.

Seit 2016 arbeitet Greve als politischer Referent beim Migrationsrat Berlin, gibt für i-Päd - die Initiative intersektionale Pädagogik - Anti-Diskriminierungs-Workshops und ist ehrenamtlich bei Gladt aktiv, einem Verein für queere Menschen of Color. Nun steht der nächste Schritt an: der in die Politik. Für seinen Einsatz gegen Rassismus und Diskriminierung wurde er im vergangenen Jahr von der überparteilichen Initiative Brand New Bundestag als Kandidat für die diesjährige Wahl nominiert.

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Doch Edwin Greve entschied, stattdessen für die Berliner Abgeordnetenhauswahl anzutreten, weil er sich der Landespolitik und den Berliner*innen näher fühlt. Obwohl Brand New Bundestag eigentlich für mehr Diversität im Bundesparlament eintritt, unterstützt die Initiative ihn weiterhin. »Wir möchten Ed Greve im Abgeordnetenhaus sehen, weil wir überzeugt sind, dass er nicht nur für seine eigenen Interessen kämpft, sondern sich für andere starkmacht und marginalisierten Gruppen eine Stimme gibt«, sagt Laura Groschopp von der Initiative.

Ressourcen für Bewegungsarbeit nutzen

Das hat sich auch die Partei »Die Urbane. Eine Hip-Hop Partei« auf die Fahne geschrieben, in die Greve Anfang 2021 eintrat und für die er am 26. September im Wahlkreis Neukölln 1 (Hermannplatz, Reuterkiez, nördlich der Sonnenallee) als Direktkandidat antritt. Außerdem steht er auf Platz 5 der Landesliste. »Die Urbane hat sich für mich als die richtige Partei erwiesen, weil die Menschen dort selbst Diskriminierungserfahrungen machen, ihre Communitys vertreten und Ressourcen für Bewegungsarbeit nutzen.« Viele Parteikolleg*innen hätten eine Behinderung, eine Migrationsgeschichte oder seien queer, so wie er.

Greve wurde als Kind kosovo-albanischer Eltern - als Florina Greve - im baden-württembergischen Pforzheim geboren und wuchs dort bei einer deutschen Pflegefamilie auf. Dass er damals keine deutsche Staatsbürgerschaft hatte, habe ihn von klein auf politisiert. »Mein Pflegevater musste alle drei Monate wegen mir zur Ausländerbehörde. Ich musste erst eingebürgert werden, um Rechte zu bekommen«, erzählt er. Das passierte 2001 - nachdem seine Pflegefamilie sich an die Presse gewandt hatte, um Druck auf die Politik auszuüben.

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Als Kind im Rollstuhl sei ihm immer wichtig gewesen, als Mädchen gesehen zu werden, »weil eine Behinderung heißt, ›entgeschlechtlicht‹ zu werden«, sagt Greve. Erst als Erwachsener habe er gemerkt, dass er sich männlich fühle, »aber das kann sich auch noch ändern. Mein Geschlechtsausdruck ist eine Wellenbewegung, das ist meine Freiheit«, erklärt er. Daher sei ihm auch wichtig gewesen, seinen Geburtsnamen Florina als Zweitnamen weiter zu tragen, weil er Teil seiner Identität sei.

Nach dem Abitur, mit 18 Jahren, zog Greve nach Berlin und erfüllte sich damit einen Kindheitstraum. Auch wenn er zu Beginn erst einmal viele Barrieren überwinden musste, vor allem bei der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, die mit Rollstuhl zugänglich ist. Ziemlich stressig sei das gewesen. Inzwischen lebt er seit acht Jahren in Neukölln in einer Wohnung von Vonovia - und setzt große Hoffnung in den Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne, über den am 26. September in Berlin ebenfalls abgestimmt wird.

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Doch nicht nur Wohnraum müsse für alle bezahlbar und barrierefrei sein, sondern auch der Nahverkehr. »Mobil sein heißt frei sein«, weiß Greve aus Erfahrung. Wenn ein U-Bahnhof jedoch keinen Fahrstuhl habe, verliere er mindestens eine halbe Stunde Zeit durch Umwege. »Menschen mit Diskriminierungserfahrungen müssen im ÖPNV Belästigungen fürchten, wer kein Geld für das Ticket hat, die Kontrollen.« Er fordert den barrierefreien Ausbau aller Fahrzeuge und Haltestellen, kurzfristig ein 365-Euro-Jahresticket und langfristig einen komplett kostenlosen Öffentlichen Personennahverkehr. Außerdem sollen die Beschäftigten diskriminierungskritisch geschult werden.

Ein weiteres Thema, für das Greve sich starkmacht, ist diskriminierungsfreie, machtkritische und inklusive Bildung. Lehrkräfte sollten entsprechend geschult und für Schüler*innen unabhängige Beschwerdestellen geschaffen werden.

Parlamente müssen diverser werden

Politik müsse voranging von den und für diejenigen Menschen gemacht werden, »die am meisten am Rand leben«, die also die meisten Diskriminierungserfahrungen machen. Seiner Partei gehe es darum, »die Idee von Macht aufzulösen« und Betroffene, Bewegungen und Initiativen basisdemokratisch an der Politik zu beteiligen. »Probleme können am besten von jenen gelöst werden, die sie erfahren«, sagt Greve.

So sieht das auch Brand New Bundestag: »Unsere Gesellschaft wird immer diverser, unsere Parlamente jedoch nicht. Aber nur wenn Menschen angemessen repräsentiert sind, können gute Entscheidungen für die gesamte Bevölkerung getroffen werden«, sagt Laura Groschopp. Zudem zeige fehlende Repräsentanz, dass gerade Menschen mit Behinderungen »noch immer nicht in der Rolle von Politiker*innen gesehen werden«, erklärt Sarah Krümpelmann von den Sozialheld*innen, einem Verein für mehr Teilhabe und Inklusion. Personen wie Edwin Greve könnten jedoch dafür sorgen, »dass Politiker*innen mit Behinderung zu einer Selbstverständlichkeit werden«.

Das ist auch Greves Wunsch: »Ich will andere inspirieren«, sagt er. Wie viele seiner Ziele er als Abgeordneter umsetzen kann, wenn er gewählt wird, ist natürlich eine andere Frage. Aber mit den Ressourcen, die ihm dann zur Verfügung stehen, will er soziale Bewegungen unterstützen - und in dieser Hinsicht also ganz Aktivist bleiben.

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