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Sätze im »Brülltest«

Distanz zur Welt: Briefe und eine Biografie zum 200. Geburtstag von Gustave Flaubert

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Für Jean-Paul Sartre war er der »Idiot der Familie«, und Sartres riesige Studie ist lange ein Kultbuch gewesen. In dem unvollendeten Werk, das es auf über 3000 Seiten bringt, agiert Flaubert als »mürrischer Asket«, der den Schatten einer offenbar trostlosen Jugend nicht entrinnen konnte.

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Michel Winock: Flaubert. Carl-Hanser-Verlag, 655 S., geb., 36 €. / »Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit«. Ausgewählte Briefe 1832-1880, zusammengestellt u. übersetzt v. Cornelia Hasting. Dörlemann, 320 S., geb., 27 €.

An der Darstellung, die abbricht, noch ehe »Madame Bovary« geschrieben ist, kam lange niemand vorbei, der sich dem Meister von Croisset zu nähern suchte. Wuchtig, unübersehbar stand sie da, eine Herausforderung sondergleichen, schon weil sie einen so berühmten Verfasser hat. Sartre, hielt Herbert Lottman dagegen, hat der intuitiven Erkenntnis mehr vertraut als den Fakten. Lottman, ein US-Amerikaner, ist der Autor einer 1989 vorgelegten Biografie, die, 1992 auch bei Insel erschienen, im deutschen Sprachraum lange das Maß aller Dinge war und noch immer zu den fundierten, lesenswerten Büchern über Flaubert gehört.

Jetzt, zum 200. Geburtstag des Franzosen am 12. Dezember, kommt eine weitere Biografie dazu, verfasst von Michel Winock, einem Pariser Historiker, der, anders als Lottman, dieses Leben stärker in die französische Geschichte und Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts bettet, etwa ins Revolutionsgeschehen von 1848 oder in die Tage der Pariser Kommune. Da bietet Winock mehr als andere, die vorher über Flaubert schrieben, aber er erweist sich auch sonst als exzellenter Kenner der Materie. Er schreibt mit sichtlicher Sympathie für seinen Autor, konzentriert sich ganz aufs Leben, wirft aufs Werk dagegen nur ein paar Seitenblicke, wahrt indes souverän den nötigen Abstand. Man folgt ihm mit Freude, denn er erweist sich als fesselnder, glänzend aufgelegter Autor.

Sein Flaubert ist, wie er am Schluss in einer Porträtskizze erläutert, ein Homo duplex, ein Mann mit zwei Gesichtern, der Bourgeois, der alles Bürgerliche hasst, der Liebende, der nichts so sehr fürchtet wie die Ehe, mal Landratte, mal Stadtratte, wie Winock sagt. Er ist der Eremit von Croisset nahe Rouen, der für einen Roman Hunderte Bücher liest, sich brennend für jedes Detail interessiert, mag es noch so unscheinbar sein, und ein wenig vergnügliches Leben führt, der zehn, zwölf Stunden lang bis tief in die Nacht an seinen Sätzen feilt. Sie müssen den »Brülltest« bestehen, ehe er mit ihrer Musikalität zufrieden ist. Wie ein Bär in der Höhle sitzt er da, bekleidet mit einer leichten Tunika, die Pfeife im Mund, immer auf der Suche nach dem treffenden Wort, einsam, Feind aller Ablenkung.

Aber wenn die Qualen überhandnehmen, Kopf und Körper Erschöpfungssignale senden, dann bricht er auf, verlässt Croisset und fährt nach Paris, besucht Freunde, frequentiert die Bibliotheken, begibt sich, nun ganz Dandy in Frack und mit weißen Handschuhen, in die Salons der Halbweltdamen. Er muss nicht aufs Geld schauen, er muss auch nicht für Geld arbeiten. Während viele seiner Schriftstellerkollegen gezwungen sind, für Zeitungen und Journale zu schreiben, kann er, Sohn eines angesehenen Arztes und einer vermögenden Mutter, sich ganz aufs Werk konzentrieren, das im Wesentlichen aus vier Romanen, drei Erzählungen und einem (kaum spielbaren) Theaterstück besteht.

Gleich der Erstling, »Madame Bovary«, macht ihn berühmt. Das Buch, im April 1857 kaum auf dem Markt und sofort vergriffen, bringt seinen Verfasser, dem die Justiz vorwirft, gegen Sittlichkeit und Religion verstoßen zu haben, auf die Anklagebank. Der Prozess, den Winock ausführlich referiert, endet mit einem Freispruch, und Flaubert schafft auf Anhieb den Aufstieg in den Olymp der französischen Autoren.

Jedes Buch, das er danach schreibt, ist anders, und jedes Mal braucht Flaubert Jahre, bis es fertig ist. Und liefert jedes Mal ein gestochen scharfes Röntgenbild der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Distanz zur Welt ist groß. Flaubert ist konservativ, Freund jeder Ordnung und Feind jeder Autorität. Für die beste Regierung hält er die, »die in den letzten Zügen liegt, weil sie bald Platz macht für eine andere«. Er verachtet die Massen und die Politik, hasst Spießbürger, Lumpenkerle, Dummheit und Korruption, geschwätzige Literaten und Verleger, die bloß aufs Geld schauen. Eine Zeitung kommt ihm nicht ins Haus. Aber 1870, als Preußens Heere in Frankreich einmarschieren, wird er doch noch zum Patrioten. Er geißelt die »unheilbare Barbarei der Menschheit« und überredet sogar die Mutter, dass sie ihn, falls Paris besetzt würde, »mit dem Gewehr auf dem Rücken ziehen lässt«.

Eine Biografie zum Vergnügen soll es sein, sagt Winock im Vorwort. Er hat nicht übertrieben. Sehr anschaulich und mit wunderbar leichter Hand zeichnet er ein facettenreiches Bild Flauberts. Er zeigt sein geradezu religiöses Verhältnis zur Kunst, seine Schreibqualen und wie ihm Krankheiten, die mutmaßlich epileptischen Anfälle und die Syphilis, die er sich im Orient geholt hat, immer mehr zu schaffen machen.

Er schildert die Reisen, das Verhältnis zur innig geliebten Mutter, der einzigen Frau, mit der er bis zuletzt auskam, auch die Freundschaften und die Frauen in seinem Leben, allen voran Louise Colet, die namhafte Lyrikerin und Pariser Schönheit, mit der er zweimal liiert ist, ohne dass er sie heiratet, und George Sand, die verehrte Kollegin und »liebe Meisterin«, 17 Jahre älter und so ganz anders als er. Während er über seinen Sätzen brütet, schreibt sie mühelos einen Roman nach dem anderen. Bei ihr kann er fluchen und klagen, ohne dass sie sich vom polternden Junggesellen aus der Fassung bringen lässt. Lebenserfahren, wie sie ist, nimmt sie den brummigen Einsiedler an die Hand, tröstet und ermuntert ihn, versorgt ihn mit ihrem Frohsinn und guten Ratschlägen. Dass er sie verehrt, hat er immer wieder beteuert.

Die Briefe, die beide wechselten, in Frankreich »ein Meisterwerk an Sensibilität« genannt, versprechen puren Lesegenuss. Ein paar stehen auch in dem tiefblauen Leinenband, den Cornelia Hasting jetzt für den Zürcher Dörlemann-Verlag zusammengestellt und übersetzt hat. Er bietet, versehen mit Anmerkungen, einer Zeittafel und einem Nachwort von Rainer Moritz, eine kleine Auswahl nur, gemessen an den fünf starken Briefbänden der französischen Edition, aber er schließt endlich eine empfindliche Lücke.

Seit Goverts 1964 in einem 800-Seiten-Band Kostproben aus der Flaubert-Korrespondenz vorgelegt hat, gab es, von Briefwechseln mit Louise Colet, George Sand und befreundeten Autoren abgesehen, keine Ausgabe mehr, die ein (wenigstens halbwegs repräsentatives) Bild vom Denken und der Persönlichkeit des Schriftstellers liefert. Hier, in dieser schönen Auswahl, ist es zu haben. Man darf lesen und staunen, denn als Briefschreiber ist Flaubert mit seiner Direktheit, seinem Witz und seiner Ironie unwiderstehlich.

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