Ein Schlag ins Parteikontor

Die schwere Niederlage bei der Bundestagswahl kommt Die Linke und ihr politisches Umfeld teuer zu stehen

Der 26. September war für Nicolas Jähring kein guter Tag. Er dürfte diesem Datum mit einer Mischung aus Hoffen und Bangen entgegengesehen haben. So wie viele Menschen, die im Bundestagswahlkampf aktiv waren, wobei die Anteile von Hoffen und Bangen unterschiedlich verteilt waren, je nach Partei. Jähring hatte sich für die Linke engagiert; es war Folge seiner politischen Überzeugung und Teil seines Jobs. In den letzten vier Jahren war er Mitarbeiter des Linke-Bundestagsabgeordneten Lorenz Gösta Beutin und betreute dessen Wahlkreisbüro in Flensburg. Beutin war bei der Wahl 2017 in den Bundestag gewählt worden, als Zweiter auf der Landesliste der Linken in Schleswig-Holstein. Auch diesmal war er Nummer Zwei. Aber die Talfahrt der Linken bedeutete für sie im Nordwesten nur ein Bundestagsmandat. Beutin war raus, das war Jähring schon am Wahlabend klar. Und damit auch, dass er demnächst seinen Arbeitsplatz verliert.

Nicolas Jähring ist einer von vielen, die den schweren Misserfolg der Linken ganz persönlich zu spüren bekommen. Denn es geht nicht nur um Abgeordnete, es geht auch um eine erhebliche Zahl von Mitarbeitern bei der Bundestagsfraktion, in Abgeordnetenbüros, beim Parteivorstand und längerfristig auch bei der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Es geht um Personal, Finanzen und Arbeitsmöglichkeiten einer Partei, die Aktionsfähigkeit gerade jetzt dringend nötig hat, um aus dem Tief wieder herauszukommen.

Seit 2019 war Jähring in Beutins Wahlkreisbüro beschäftigt. Davor hat er unter anderem bei McDonald’s gearbeitet, auch mal bei der dänischen Post. In die Politik ist er bei der SPD eingestiegen; er war Pressesprecher der Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange, die zur Parteilinken zählt, unterstützte sie bei ihrer Kandidatur für den SPD-Vorsitz im Frühjahr 2018. Bei der Wahl setzte sich Andrea Nahles durch; Jähring zog aus der Entwicklung der SPD den Schluss, die Partei zu verlassen und sich der Linkspartei zuzuwenden. Anfang 2019 wurde er Mitarbeiter beim Linke-Abgeordneten Beutin. »Je älter ich werde«, sagt der heute 37-Jährige, »desto linker werde ich auch.«

Hätte Beutin, der sich in den letzten vier Jahren den Ruf eines umweltpolitischen Experten erarbeitet hat, sein Bundestagsmandat behalten, wäre Jähring nach Berlin gewechselt, »wo ich eigentlich herkomme«. Er wäre dort Beutins Büroleiter geworden, das war schon besprochen. Hätte, wäre - das zählt seit dem 26. September nicht mehr. »Wir haben alle mit den nächsten vier Jahren geplant«, sagt Jähring. Stattdessen droht nun ab November die Arbeitslosigkeit, denn der bisherige Arbeitsvertrag endet am 31. Oktober. Zwar hofft er auf Weiterbeschäftigung in der neuen Linksfraktion, aber die hat sich fast halbiert, so wie die Linke-Wählerschaft. Klappt das nicht, muss er sich beruflich ganz neu orientieren. »Aber eine Bewerbung bei einem mittelständischen Betrieb in Flensburg mit meinem Lebenslauf als Linker, das ist ziemlich aussichtslos.«

So wie Jähring müssen sich viele Linke-Mitarbeiter mit der Frage beschäftigen, wie es beruflich weitergehen soll. Allein die Zahl derer, die direkt bei der Bundestagsfraktion angestellt sind, wird spürbar kleiner werden. 69 Abgeordnete hatte die Linksfraktion bisher; 39 sind es in der nächsten Wahlperiode. Das reicht gerade so für den Fraktionsstatus, was auch finanziell wichtig ist, bedeutet aber dennoch empfindliche Einbußen. Etwa 40 bis 45 von zuletzt gut 150 Mitarbeitern könnten künftig nicht mehr dabei sein. Zwar gelten die Arbeitsverträge der direkt bei der Fraktion Angestellten mindestens vier Monate über den Wahltermin hinaus, womit sie etwas besser abgesichert sind als beispielsweise Nicolas Jähring in Flensburg, aber das ist nur ein schwacher Trost.

Bisher verfügte die Linksfraktion über einen Jahresetat von etwas mehr als 15 Millionen Euro, die sich aus einen Grundbetrag für die Fraktion und einer Zulage je nach Zahl der Abgeordneten zusammensetzt. Dabei werden Oppositionsfraktionen etwas besser gestellt als Fraktionen von Regierungsparteien, weil denen zumindest in der Außenwahrnehmung auch die Potenziale von Ministerien und anderen Regierungsbehörden zur Verfügung stehen. Die neue, kleinere Linksfraktion wird sich mit 11,3 Millionen Euro pro Jahr zufrieden geben müssen. Und das wirkt sich besonders bei den Mitarbeitern aus, »denn zuletzt waren rund drei Viertel des Gesamtetats Personalkosten«, sagt Fraktionsgeschäftsführer Volker Schneider, der von 2005 bis 2009 selbst Abgeordneter war. Das letzte Viertel geht vor allem in jenen Bereich, der im weitesten Sinne als Öffentlichkeitsarbeit verstanden werden kann - Publikationen, Anzeigen und Veranstaltungen.

Mindestens genau so groß ist der personelle Aderlass in den Abgeordnetenbüros. Deren Mitarbeiter sind nicht bei der Fraktion angestellt, sondern direkt bei den Parlamentariern. Jeder Bundestagsabgeordnete hat neben seinem Einkommen - das streng formal Abgeordnetenentschädigung heißt, in der Umgangssprache aber als Diäten bezeichnet wird - monatlich knapp 23 000 Euro zur Verfügung, mit denen er seine Mitarbeiter im Berliner Parlamentsbüro und im Wahlkreis bezahlen kann. Manche Volksvertreter beschäftigen davon fünf Mitarbeiter, andere sieben. Wenn die Linksfraktion künftig 30 Abgeordnete weniger zählt, heißt das also auch: weniger Büromitarbeiter in der Größenordnung etwa zwischen 150 und 200. Das entspricht einem mittelständischen Unternehmen, das da verschwindet.

Diese Angestellten sind teils Experten für die Fachgebiete der Abgeordneten, teils Öffentlichkeitsarbeiter, in den Wahlkreisen oft diejenigen, die Partei und Fraktion vertreten und sichtbar machen. »In unsere Büros sind zu den Sprechzeiten fast täglich Leute gekommen«, sagt Nicolas Jähring. »Die brauchen Hilfe bei sozialen Problemen, die wollen sich über die politischen Positionen der Linken informieren. Und bei uns haben sich auch Initiativen getroffen, Black Lives Matter zum Beispiel, Fridays for Future oder die Linksjugend.«

Ein Teil dieser Struktur droht nun wegzubrechen. Manche Büros müssen geschlossen werden, bei anderen werden die verbleibenden Abgeordneten gemeinsam mit den Landesvorständen versuchen, wenigstens ein Minimum aufrechtzuerhalten. Wie es mit den Regionalbüros weitergeht, die die Linksfraktion an ausgewählten Schwerpunkten mancher Bundesländer unterhält, ist noch nicht entschieden. Um flächendeckende Vertretung kann es ohnehin nicht gehen, wenn - wie in Schleswig-Holstein, Hamburg, Rheinland-Pfalz und im Saarland - nur noch ein Abgeordneter im Bundesland Die Linke vertritt. In Bremen ging die Partei sogar leer aus.

Was solche Verluste praktisch bedeuten, erklärt Claudia Haydt für den Landesverband Baden-Württemberg. Künftig müsse die Arbeit wieder stärker ehrenamtlich organisiert werden, sagt die Landesgeschäftsführerin. Drei statt bisher sechs Bundestagsabgeordnete - das ist ein harter Einschnitt für einen Landesverband, der es bisher auch nicht in den Landtag geschafft hat. Abgesehen davon, dass eine Partei ohne Landtagsfraktion in den Regionalmedien nur sehr eingeschränkt vorkommt, wird Die Linke im Südwesten Büros etwa in Tübingen und Pforzheim schließen müssen; die verbleibenden Abgeordneten sollen versuchen, einen Teil der Struktur zu stützen.

Claudia Haydt hofft, dass der Zuschuss der Bundespartei an die Landespartei in Höhe von 60 000 Euro pro Jahr nicht gekürzt wird. Der Landesvorstand hat nach der Wahl die Devise ausgegeben, jetzt die Arbeit vor Ort zu intensivieren, damit bei den nächsten Kommunalwahl in drei Jahren die Positionen an der Basis gehalten und möglichst ausgebaut werden können. Ein Hoffnungsschimmer sind »die etwa 180 Online-Neueintritte seit der Bundestagswahl«, sagt Haydt. Das sind oft Leute, »die wir schon von Veranstaltungen kennen«. Erfahrungsgemäß bleiben ungefähr zwei Drittel solcher Neumitglieder dauerhaft dabei.

Was die Unterstützung für die Landesverbände betrifft - die will die Bundespartei möglichst beibehalten, sagt Linke-Schatzmeister Harald Wolf. Obwohl auch er vor schwierigen Entscheidungen steht. Etwa 1,3 Millionen Euro weniger erhält die Linkspartei in den nächsten Jahren über die staatliche Parteienfinanzierung - eine direkte Folge des Wahlergebnisses, bei dem Stimmen auch Geld wert sind. Das heißt: Der Gesamtetat der Linken, bislang rund 13,75 Millionen Euro im Jahr, sinkt um rund zehn Prozent. Über die Konsequenzen ist die Parteiführung noch in der Debatte. Mit dem Betriebsrat des Karl-Liebknecht-Hauses, der Parteizentrale in Berlin, wird gesprochen; laut Wolf soll es keine betriebsbedingten Kündigungen für die rund 80 Mitarbeiter mit meist unbefristeten Arbeitsverträgen geben. Umstrukturierungen, das heißt Personalkürzungen werden aber wohl nicht zu vermeiden sein.

Anders als Wolf hat Daniela Trochowski mehr Zeit, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Die Geschäftsführerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit knapp 300 Beschäftigten kann für das nächste Jahr möglicherweise mit einem Etat von etwa 73 Millionen Euro rechnen, etwas weniger als 2021; die Haushaltsberatungen im Bundestag stehen noch aus. »Aber auch an uns wird das Wahlergebnis nicht spurlos vorübergehen«, sagt Trochowski. Denn die Finanzen der parteinahen Stiftungen, die fast vollständig aus dem Bundeshaushalt kommen, werden nach dem Durchschnitt der Ergebnisse bei den letzten vier Bundestagswahlen berechnet. Und diesen Durchschnitt zieht die jüngste Wahl bei der Linken spürbar nach unten. Das werde sich, so Trochowski, ab 2023 auswirken. Vorerst sollen in der Luxemburg-Stiftung frei werdende Stellen grundsätzlich nicht mehr besetzt und befristete Arbeitsverträge nicht entfristet werden. Im kommenden Jahr werde man dann überlegen, wie mit den finanziellen Folgen des Wahlergebnisses umzugehen ist.

Auf die parteinahen Stiftungen insgesamt könnte ein weiteres finanzielles Problem zukommen: Mit der Desiderius-Erasmus-Stiftung, die der AfD nahesteht, drängt ein zusätzlicher Kandidat an den Geldtopf. Ob und wie sich das auf die Finanzierung der anderen Stiftungen auswirkt, ist ungewiss.

So wird sich die Linkspartei wie ihr politisches Umfeld in den nächsten Jahren einschränken müssen. Sie wird vieles auf den Prüfstand stellen und versuchen müssen, dem Mangel mit Kreativität zu begegnen. Das hat sie schon einmal erlebt, als nach der Bundestagswahl 2002 die PDS nur noch mit den beiden direkt gewählten Abgeordneten Gesine Lötzsch und Petra Pau im Parlament war. Bei der folgenden Wahl 2005 stieg sie wie Phönix aus der Asche, weil sie sich in den Protesten gegen die Hartz-Gesetze neu profiliert und beim Zusammengehen mit der WASG zur Linkspartei neu organisiert hatte.

Ob und wie die Wiederbelebung diesmal gelingt, ist noch völlig offen. Vergleichbar ist immerhin, dass wie vor fast 20 Jahren Die Linke wahrscheinlich in Opposition zu einer Regierung steht, in der SPD und Grüne beweisen müssen, was ihre Wahlkampfversprechen wert sind. Nicolas Jähring, der noch ein paar Tage in Flensburg die Stellung hält, wäre gern weiter dabei. Deshalb hat er sich beworben - für einen Job in der neuen Linke-Fraktion.

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