»Wir wollen zurück zur Demokratie«

Die linke Abgeordnete Yolanda Anabel Belloso Salazar über die Entwicklung in El Salvador unter dem Autokraten Nayib Bukele

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 10 Min.

Seit der Einführung von Bitcoin am 7. September hat es in El Salvador eine Welle von Protesten gegeben. Am 17. Oktober gingen in San Salvador Tausende gegen die Regierung von Präsident Nayib Bukele auf die Straße. Der Protest richtete sich nicht nur gegen die Einführung von Bitcoin als offizielle Währung neben dem US-Dollar. Auf den Bannern stand neben »Bitcoin ist Betrug« auch »Nein zur Diktatur«. Sind die Anschuldigungen gerechtfertigt?

Es sind Zuspitzungen mit einem wahren Kern. Seit die Regierung Bukele 2019 angetreten ist, sind alle ihre Aktionen und Entscheidungen auf ein Ziel gerichtet, nämlich das politische System umzubauen, dass es sich in Richtung eines autoritären Regimes entwickelt. Gleichzeitig wird die Wirtschaft so umgestaltet, dass sie die Interessen der Familie Bukele und der mit ihr verbündeten Familien begünstigt. Bukele ist selbst als Unternehmer tätig. Er konsolidiert seine ökonomische Macht, indem er öffentliche Gelder einsetzt. Er lässt auch Gesetze verabschieden, die seinen Wirtschaftsinteressen entgegenkommen - wie das Gesetz zum Bitcoin, mit dem die Kryptowährung gleichberechtigt zum US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt wurde. Das kommt der Unternehmensgruppe seiner Familie und befreundeten Familien zugute.

Sind das die 14 Familien der klassischen Oligarchie, die sich einst El Salvador untereinander in 14 Departamentos aufteilten und seit Jahrzehnten die ganze ökonomische Macht in ihren Händen halten?

Interview
Yolanda Anabel Belloso Salazar stammt aus bescheidenen Verhältnissen und schloss sich bereits in jungen Jahren der linken Partei FMLN an, die 1992 nach den Waffenstillstandsvereinbarungen aus der gleichnamigen Guerilla hervorging. Salazar sitzt seit 2018 im Parlament in El Salvador und schaffte 2021 den Wiedereinzug. Über die aktuelle Lage im Land sprach mit ihr Martin Ling.

Ein Teil der traditionellen Oligarchie ist auf der Seite von Bukele, ein anderer Teil liegt im Streit mit ihm. Die, die mit ihm an einem Strang ziehen, erhoffen sich damit, ihre wirtschaftliche Macht zu konsolidieren. Das passiert mit öffentlichen Geldern. So wurde das Unternehmen Chivo, das hinter der virtuellen Geldbörse für die Bitcoin-Nutzung steht, mit öffentlichen Geldern geschaffen. Bukele verschafft auch ihm gewogenen privaten Unternehmen profitable Verträge. Der Betrieb eines neuen Luftfrachtterminals wurde für 35 Jahre einem Financier von Bukeles Wahlkampf 2019 zugeschanzt.

Woran zeigt sich der politische Umbau?

Am 1. Mai stimmte das neue Parlament, in dem die Regierungspartei Nuevas Ideas (Neue Ideen) eine Mehrheit von mehr als zwei Dritteln hat, für die Absetzung aller fünf Richter des Verfassungsgerichts, die sich in der Vergangenheit gegen Bukele gestellt hatten. Die Abgeordneten haben mit ihrem Vorgehen die gültige Verfassung verletzt. Durch ihr illegales Vorgehen haben sie die Macht über alle Institutionen bekommen, auch über den Obersten Gerichtshof und die Staatsanwaltschaft. Bukele stößt auf dem Weg zu einem autokratischen Regime aber mehr und mehr auf Widerstand in der Bevölkerung. Deswegen richteten sich die Plakate bei den Demonstrationen nicht nur gegen die Einführung des Bitcoin, sondern auch gegen das Gebaren der Regierung an sich.

Weshalb stößt der Bitcoin als zusätzliche gesetzliche Währung auf so wenig Gegenliebe?

Weil die einfachen Leute den Eindruck haben, dass er ihnen keinesfalls zugutekommt. 90 Prozent haben sich in Umfragen gegen den Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel ausgesprochen. Die einfachen Leute sind sich sicher, dass der Bitcoin ihnen nicht bei der Bewältigung ihrer wirtschaftlichen Probleme hilft, dass er der informellen Familienwirtschaft beim alltäglichen Durchschlagen nicht hilft, sondern zu noch mehr Ungleichheit beiträgt. Außerdem eröffnet der Bitcoin das Fenster zum Betrug und Diebstahl von Identitäten. Viele wurden schon Opfer davon, dass ihre Ausweisnummer dazu benutzt wurde, die Bitcoin-App herunterzuladen. Es gibt keine effektive Kontrolle dafür, dass die Person, die die App herunterlädt, auch diejenige ist, der die Ausweisnummer zugeordnet ist. In El Salvador gibt es keine Datenschutzgesetze.

Der Bitcoin ist eines von vielen Themen, die die Salvadoreños derzeit auf die Straßen treibt. Die Militarisierung ist ein anderes, die von Bukele vorangetrieben wird. Er hat erklärt, dass er die Zahl der Soldaten in den nächsten Jahren verdoppeln will - und hat dafür für das nächste Jahr bereits den Militäretat kräftig erhöht. Und das in einem Land, in dem seit dem Friedensabkommen 1992 die Rolle des Militärs zurückgedrängt wurde. Bukele dreht die Uhr zurück und räumt dem Militär wieder Kompetenzen ein, die nicht mit der Verfassung vereinbar sind. Die Bevölkerung lehnt das ab, sie wissen um den Missbrauch der Macht und die Repression der Militärs aus der Vergangenheit.

Ein Argument von Bukele ist, dass der Bitcoin inflationssicherer sei als der US-Dollar. Wird diese Auffassung von der Bevölkerung geteilt?

Nein. Was die Bevölkerung auch umtreibt, sind die hohen Lebenshaltungskosten. Darauf gibt es keine Antwort der Politik. Das trifft die Menschen, egal ob die hohen Treibstoffpreise oder die steigenden Preise für öffentliche Basisdienstleistungen wie Strom und Wasser. Alles wird teurer, und von der Regierung kommt keine Lösung. Der Bitcoin ist keine.

Haben die Folgen der Corona-Pandemie Einfluss auf die Demonstrationen?

Das spielt durchaus eine Rolle. Die einheimischen Produzenten sind oft sauer auf Bukele, weil er während der Pandemie die Importe von Grundnahrungsmitteln und Konsumgütern ausgeweitet hat. Das geht zulasten der einheimischen Produktion. Auch der Transportsektor ist in Aufruhr. Die Beschäftigten dort drohen seit dem 20. Oktober ebenfalls, auf die Straße zu gehen, wenn ihren Forderungen nicht nachgekommen wird. Sie sind über die hohen Treibstoffpreise erbost. Obwohl es staatliche Subventionen für den Transportsektor gibt, funktioniert er nicht mehr richtig. So kommen viele Gründe zusammen, die die Leute auf die Straßen treiben. Es geht also um weit mehr als um das Gesetz zum Bitcoin, das am Anfang der Proteste stand. Bisher zeigt sich die Regierung unbeeindruckt gegenüber den Forderungen. Stattdessen stellt sie die Legitimität der Proteste infrage.

Ist das Land auf dem Weg zur Diktatur?

Es ist immer die Frage, woran man eine Diktatur festmacht. Auf alle Fälle wird ein autoritäres Regime mit einer verstärkten Konzentration der Macht immer weiter ausgebaut. Bukele setzt sich über die Verfassung hinweg, regiert autoritär, die Räume für Partizipation werden zunichte gemacht. Die totale Kontrolle über Staatsanwaltschaft und die Polizei wird angestrebt, das Verfassungsgericht ausgehebelt.

Mit der Neubesetzung?

Ja. Wegen der Erfahrung mit der Diktatur wurde in der Verfassung explizit festgeschrieben, dass eine direkte Wiederwahl des Präsidenten ausgeschlossen wird, um eine dauerhafte Machtkonzentration bei einer Person zu verhindern. Diese Artikel in der Verfassung wurden als nicht veränderbar, weil grundsätzlicher Natur festgeschrieben. Das mit Richtern von Bukeles Gnaden neu besetzte Verfassungsgericht hat das einfach übergangen - nur vier Monate nachdem sie durch das neue Parlament eingesetzt wurden.

Der Reformvorschlag von Bukele zur Verfassung umfasst 216 Artikel, im Prinzip soll die gesamte Verfassung neu geschrieben und auf ihn zugeschnitten werden. Das geht schon in Richtung Diktatur. Bukele selbst scherzt bei Twitter darüber und nennt sich dort immer mal wieder Diktator des coolsten Landes der Welt. Er macht darüber Witze, ohne sich Gedanken zu machen, welche Empfindlichkeiten es bei der Bevölkerung angesichts der langen Militärdiktatur von 1931 bis 1979 gibt. Ansonsten sagt er, es sei ja keine echte Diktatur, weil die Menschen nicht gewaltsam unterdrückt würden. Das ist eine fragwürdige Sicht, zumal es ja durchaus politische Gefangene gibt. Darunter viele ehemalige Funktionäre aus der Regierungszeit meiner Partei, der FMLM, die von 2009 bis 2019 den Präsidenten stellte. Die wurden unter Verletzung ihrer Rechte eingesperrt, ohne formale Anklagen, wie es die Gesetze vorsehen. Auch das sind Zeichen einer aufkommenden Diktatur. Und das Militär wird auch zur Unterdrückung der Demonstrationsfreiheit eingesetzt. Am großen Protesttag, dem 17. Oktober, wurden landesweit Polizei- und Militärsperren auf Straßen errichtet, um zu verhindern, dass Busse mit Demonstranten in die Stadt fahren konnten.

Wie steht es um die Wirtschaftspolitik von Bukele?

Er folgt dem neoliberalen Modell. Wie schon gesagt, nützt er öffentliche Gelder, um seinen privatwirtschaftlichen Interessen zur Geltung zu verhelfen. Er nützt andere Mechanismen als in der neoliberalen Phase in den 1990er Jahren in El Salvador. Damals wurden die staatlichen Dienstleistungen privatisiert. Heute wird anders vorgegangen: Privaten Unternehmen werden Lizenzen erteilt, um für eine bestimmte Zeit öffentliche Leistungen zu erbringen und dafür abzukassieren. Das Luftfrachtterminal ist dafür ein prominentes Beispiel. Bitcoin ist ein anderes Beispiel. Mit der Abwicklung der virtuellen Geldbörse ist das private Unternehmen Chivo betraut. Hinter dieser Geschichte stehen Bukele nahestehende Personen einschließlich seiner Brüder. Das haben investigative Recherchen offengelegt.

Die Pandemie wurde dazu benutzt, um sich bei den Importen zu bereichern. Ein großer Teil wurde über Unternehmen von Regierungsmitgliedern abgewickelt. Die Familie des Gesundheitsministers lieferte Importgüter und Dienstleistungen für das Gesundheitsministerium. Die Tourismusministerin stellte über ihre Familie Unterkünfte für die Touristen zur Verfügung, die in Quarantäne mussten. Grundnahrungsmittel wurden aus Mexiko von Unternehmen importiert, die in keinem Unternehmensregister auftauchen. Es gab im Jahr 2020 Ausgaben in Höhe von etwa einer Milliarde Dollar, für die es keine buchhalterischen Belege gibt, monierte der Rechnungshof. Es gibt ein System der Korruption. Bukele hat in seinem Wahlkampf 2019 die Abkehr vom neoliberalen Modell versprochen, hat sich als progressiver Kandidat verkauft. Aber er hat nicht Wort gehalten.

Versprochen hat er auch die Bekämpfung der Gewaltkriminalität, die vor allem von den Straßengangs, den Maras, ausgeht. Dafür hat er den »territorialen Kontrollplan« auf den Weg gebracht. Die offizielle Mordrate ist in seiner Amtszeit deutlich gesunken. Trauen Sie den Zahlen und was halten Sie von dem Plan?

Der Plan ist vor allem ein Propagandainstrument. Er wird als riesiger Erfolg verkauft mit dem Verweis auf die niedrigen offiziellen Mordzahlen. Was sich dahinter verbirgt, weiß niemand. Der Plan wird nicht mit der Begründung erklärt, dass man sonst ja die Strategie der Gewaltbekämpfung verraten würde. Es ist aber keine Frage der Strategie, wenn man die Bevölkerung im Unklaren darüber lässt, wie die öffentliche Ordnung hergestellt werden soll.

Als die FMLN die Regierung stellte, gab es einen partizipativen Ansatz der Gewaltbekämpfung, die gesellschaftlichen Gruppen wurden einbezogen. Das ist passé. Auch die offiziellen Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Es stimmt, dass die Zahl der Morde zurückgegangen ist. Verschwiegen wird, dass die Zahl der Verschwundenen gestiegen ist. Die tauchen in den meisten Fällen als ermordete Personen auf, wenn sie überhaupt wieder auftauchen.

Ein bekannter Fall ist Chalchuapa. Dort wurden 2021 Dutzende Leichen in Massengräbern gefunden, was den territorialen Kontrollplan überschattet. An der Ermordung waren Ex-Polizisten beteiligt. Die Menschen waren vorher als verschwunden gemeldet gewesen, ohne dass die Behörden reagiert hätten. Und neben Verschwundenen gibt es auch weiter Morde. Dieses Problem wird von der Regierung versucht zu verbergen. Die Bandenkriminalität gibt es aber nach wie vor, wird aus den Gemeinden berichtet. Es wird angenommen, dass die Regierung teilweise die Banden fürs Stillhalten bezahlt und dass diese wieder losschlagen, wenn die Regierung ihren Verpflichtungen nicht nachkommt. Die Banden erpressen die Regierung. Und es gibt nach wie vor Unternehmen, die den Banden monatlich Schutzgeld zahlen müssen. Diese Realität geht weiter.

Bukele gehörte einst selbst der FMLN an. Wie ist das Verhältnis zu ihm?

Es gibt keinen Kontakt mehr zu ihm, seit er 2017 ausgeschlossen wurde. Schon davor war das Verhältnis sehr schwierig, weil er gegen Ziele der Partei verstieß. Er ist kein Mensch, der den Dialog sucht, er will seine Positionen ohne Diskussion durchdrücken.

Wie kann Bukele gestoppt werden? Bedarf es dafür einer kontroversen Hilfe der USA?

Wir wollen das im Rahmen der nationalen Souveränität schaffen, wir wollen keine Intervention. Wir wollen das schaffen über die Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen, mit all denen, die derzeit auf die Straßen gehen. Mit ihnen zusammen wollen wir dafür kämpfen, auf den demokratischen Weg zurückzukehren, der 1992 mit dem Friedensabkommen mit allen Schwierigkeiten eingeschlagen wurde. Es werden immer mehr Gruppen aus der Gesellschaft, die sich diesem Kampf anschließen. Internationale Solidarität können wir dafür schon gebrauchen, aber keine Intervention.

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