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Ich konnte nicht »meinen Mann stehen«

Jahrelang lebte Max Kersting mit Erektionsstörungen, ohne das ihm ein Arzt helfen konnte oder wollte. So wie ihm geht es vielen Männern

  • Max Kersting
  • Lesedauer: 5 Min.
Erektionsstörungen: Ich konnte nicht »meinen Mann stehen«

Ich erinnere mich noch, als ob es gestern wäre, als ich das erste Mal beim Arzt saß und vor Scham kaum erklären konnte, warum ich da war: Erektionsstörungen. Meine Erektion wurde über Monate hinweg immer schwächer. Noch unangenehmer als das war allerdings die Reaktion des Arztes: Er hat sich meinen Penis angeschaut, meinte, der sähe ja ganz normal aus und mich wieder nach Hause geschickt. Ich wusste zwar, irgendwas ist nicht okay, aber trotzdem hat es Monate gedauert, bis ich mich getraut habe, zu einem Urologen zu gehen, der schließlich eine venös bedingte Erektionsstörung diagnostiziert hat. Immer wenn der Körper eine Erektion herstellen wollte, hat eine Vene nicht mitgemacht. Ich hatte praktisch ein Leck. Anstatt das Blut im Penis zu stauen, sodass er hart wird, ist es gleich wieder rausgeflossen. Mir war das unheimlich peinlich – auch deshalb konnte ich mit anderen Menschen nicht darüber sprechen. Ich habe meinen Frust und meine Scham immer weiter in mich rein gefressen.

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Dabei sind Erektionsprobleme nicht selten. Bis zu 30 Prozent der männlichen Bevölkerung hat größere oder kleinere Potenzprobleme. Die Odyssee, die man dann erlebt, ist leider auch nicht so selten, wie viele Menschen denken: Meist werden direkt Medikamente wie Viagra, Cialis und Co. verschrieben. Sie erhöhen den Bluteinstrom, wirken aber nur für etwa 70 Prozent der Betroffenen. Wenn der Abfluss gestört ist, wie es bei mir der Fall war, dann hilft auch ein erhöhter Bluteinstrom in den Penis nicht. Etwa so wie bei einer Badewanne ohne Stöpsel. Über Jahre wussten die verschiedensten Ärzte nicht, was sie mit mir anstellen sollten. Immer höhere Dosen von den bekannten Medikamenten haben (bis auf deren Nebenwirkungen) für mich nicht funktioniert. Ich habe mir Injektionen in den Penis setzen müssen, bin operiert worden in der Hoffnung, meine Probleme überwinden zu können. Alles erfolglos. Meine Scham wurde immer größer.

Ich hatte Angst, niemals eine Familie gründen zu können. Irgendwann hat mir ein Arzt empfohlen, über ein Schwellkörperimplantat nachzudenken. Dieser Moment war ein Wendepunkt für mich. Ich weiß noch, wie ich dachte: »Ihr könnt mich alle mal.« Dann habe ich selbst angefangen, Medizindatenbanken zu lesen, Forschung zu sammeln und in Foren nach von Betroffenen empfohlenen Ärzten zu suchen. Diese Ärzte haben mir schließlich geholfen, aus den gesammelten Informationen einen Behandlungsplan zu erstellen und umzusetzen: Beckenbodentraining, Anpassungen meines Lebensstils, Meditation, aber auch Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel und Training mit auch als »Penispumpen« bekannten Vakuumpumpen gehörten dazu. Bis heute weiß ich nicht, was davon welchen Effekt hatte. Aber nach einem Jahr mit dem Training haben Viagra und Co. situativ wieder funktioniert. Nach zwei Jahren und bis heute – über zehn Jahre später – habe ich eine funktionierende Erektion.

Und ich habe gelernt: Auch als Mann kann man Verantwortung für die eigene intime Gesundheit übernehmen. Aber während Frauen es schaffen, Themen wie Menstruation und Körperbilder schrittweise in die Öffentlichkeit zu bringen und trans Personen ihren Körper und ihre Gesundheit enttabuisieren, sind intime Gesundheitsprobleme des männlichen Körpers oft weiterhin ein Tabu. Bei den Themen Männlichkeit und Männergesundheit tun wir uns als Gesellschaft noch immer schwer. Viele Männer verstecken intime Gesundheitsprobleme vor ihren Partner*innen. Aber auch die leiden unter der Scham, der fehlenden Sexualität und der häufig geringen Kommunikation.

Ich merke jeden Tag, wie unangenehm das Thema vielen Menschen ist. Mögliche Investoren für unser Unternehmen »Regimen«, mit dem wir die weltweit erste digitale Therapie für Erektionsstörungen entwickelt haben, sind etwa der Meinung, dass Männer nur Pillen wollen würden. »Self Care« und insbesondere Beckenbodentraining seien nicht männlich. Gesprächspartner betonen oft schon im ersten Satz, dass sie selbst dieses Problem nicht hätten. Insbesondere deutsche Gesundheitsinstitutionen fallen durch ihre Prüderie auf: Erektionsstörungen seien Privatsache. Was für ein Unsinn!

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Tatsächlich sind Erektionsstörungen mit der beste Vorhersagefaktor für Herzkreislauferkrankungen wie Schlaganfälle oder Herzinfarkte, weil die Blutgefässe im Penis kleiner sind als im Herzen und Komplikationen so früher sichtbar werden. Erektionsstöungen haben zudem erheblichen Einfluss auf die psychische Gesundheit. Auch die Wissenschaft sagt eindeutig, dass eine ganzheitliche Behandlung immer der erste Behandlungsweg sein sollte, unabhängig davon, ob die Betroffenen zusätzlich pharmazeutische Produkte nehmen oder nicht. Bei der Auseinandersetzung mit Erektionsstötungen werden also sowohl die Erektion als auch die Risikofaktoren für schwere Erkrankungen angegangen.

Gesellschaftlich ist die Stigmatisierung von Erektionsstörungen sogar noch verheerender. Denn sie verringert die Möglichkeit, Männlichkeit neu zu denken. Dabei hätten auch wir cis Männer die Chance, ganzheitliche Gesundheit und intime Probleme neu zu besetzen und auf unsere persönliche Gesundheit achtzugeben - ohne Scham und Stigma. Es gibt jedoch keine männlichen Vorbilder, die über derartige intime Probleme offen sprechen. Ich kenne keinen Hollywood-Film, in dem ein Protagonist sich mit Erektionsstörungen auseinandersetzt und »impotent« oder »Schlappschwanz« sind weiterhin Beleidigungen.

In Zeiten der Neuverhandlung von Geschlechternormen und Sexualität gilt: Auch wir cis Männer können Tabus auflösen und das Leben von Menschen in Partnerschaften glücklicher, gesünder und lebenswerter machen – inspiriert von laufenden feministischen Kämpfen und einer Welt, in der sich Geschlechternormen verschieben. Lasst uns endlich über Männlichkeit und Männergesundheit sprechen, Tabus aufbrechen und ein modernes, empathisches und verletzliches neues Männlichkeitsbild möglich machen.

Max Kersting lebt mit seiner Partnerin in Berlin und ist Mitgründer von »Regimen« (joinregimen.com). Das Unternehmen hat zusammen mit Ärzten und Wissenschaftlern eine digitale Therapie für Erektionsstörungen entwickelt. Es sammelt langfristig Daten über den physischen und psychischen Einfluss von intimen Gesundheitsproblemen des männlichen Körpers, um die Therapien zu personalisieren und Behandlungserfolge nachhaltig zu verbessern.

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