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Material Körper

Die Ikone der Performancekunst Marina Abramović wird 75

Es ist das Jahr 1977. Die Ära der Performancekunst, des körperbetonten Ausdrucks, der provokanten Grenzüberschreitung hat ihren Zenit noch nicht überschritten. Geladen wird in die Galleria d’Arte Moderna, eine der Weihestätten der Hochkultur im kunstverliebten Bologna. Der Übergang von einem Raum in den anderen, wo die Augen des Betrachters sich üblicherweise von den satten Eindrücken erholen können, wird mit einem menschlichen Kunstwerk gefüllt. Ein Mann, eine Frau, beide splitternackt, stehen sich gegenüber, die Augen einander zugewandt, im Türrahmen. Die Besucher müssen, sofern sie es wagen, sich zwischen den beiden hindurchdrängen. Dem einen peinlich berührt den Rücken zuzuwenden, heißt im Zweifel der anderen unmittelbar ins Gesicht zu sehen - und umgekehrt. Die nackten Körper, der unverhohlene, viel öfter aber der ganz und gar verschämte Blick eines anderen Gasts und die ureigenen Reaktionen auf diese vollkommen konfrontative Kunst ist das Ereignis, das den Fokus auf das, was sich in den an den Wänden hängenden Rahmen abspielt, abgelöst hat.

»Imponderabilia« lautet der Titel dieser Performance, die das Unberechenbare in ein kurzes Spektakel bannt. Ulay ist der Name des nackten Mannes, Marina Abramović der der nackten Frau.

Exemplarisch zeigt das beschriebene Werk, was die Performances der Marina Abramović kennzeichnet. Ihr wichtigstes Material ist ihr eigener Körper, den sie dem Blick des Publikums aussetzt, wenn nicht sogar der Selbst- oder Fremdverletzung. Die künstlerische Arbeit ist nicht mehr bloßes Wahrnehmungsangebot an den Betrachter, sondern es provoziert Reaktionen. Ulay ist nicht lediglich ein künstlerischer Partner, beide verbindet eine jahrelange Beziehung, die sie öffentlich zur Schau stellen, die Trennung eingeschlossen. Abramović gibt alle Grenzen des Privaten auf, das für sie - um eine Binsenweisheit im Nachklang von 1968 zu bemühen - nicht nur das Politische ist, sondern auch Gegenstand der Kunst sein soll.

Marina Abramović, 1946 in Belgrad geboren, zählt zu den prägenden Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts. Nach einem Studium der Malerei in ihrer Heimat und ersten interdisziplinären Arbeiten verlässt sie 1976 Jugoslawien gen Westen - von den Niederlanden über die Bundesrepublik Deutschland geht es bald schon in die USA -, wo sie die Kunstwelt gehörig auf den Kopf stellt und entscheidenden Einfluss nicht nur auf die bildende, sondern auch auf die darstellende Kunst ausübt, von avancierten Videoarbeiten bis zu experimentellen Theaterinszenierungen.

Wer die berühmt gewordenen Performances von Abramović im Kopf durchgeht, bei dem mag der Eindruck entstehen, es handelte sich um eine Aneinanderreihung verschiedener Martyrien: von der Selbstgeißelung mit einer Peitsche, über das Pentagramm, das sie sich in den Bauch geritzt hat, bis zur Vorführung und dem Zurverfügungstellen des eigenen nackten Körpers. Und selbstredend ist das, was diese Kunstform zum Ausdruck bringen kann, sehr beschränkt, zielt es doch stark auf den Affekt ab. Aber Abramović hat auch leisere, nachdenkliche Arbeiten geschaffen, die über den geheimnisvollen Existenzialismus der 70er Jahre hinausgehen, ohne ihrem Stil untreu zu werden. Beispielsweise in ihren Werken, die sich mit den Jugoslawienkriegen auseinandersetzen.

Die Erkenntnis, dass jede nach unbedingter Radikalität strebende Kunst an einem bestimmten Punkt an ihre Grenzen gerät, ja möglicherweise sogar dazu verdammt ist, irgendwann selbst zur Konvention zu werden, ist das bittere Los der Avantgarden. Abramović, die schon heute mit einer Kunst der Vergangenheit assoziiert wird, hat sich diesem Schicksal gewissermaßen bereitwillig hingegeben und zu ihrer eigenen Musealisierung beigetragen. Sie hat ihre Performances nicht nur seit den 70er Jahren filmisch dokumentiert und damit diese auf das unmittelbare Erlebnis hin inszenierte Kunst - durchaus auf Kosten der Wirkung! - für die Nachwelt konserviert, sondern sie hat sogar, mit mehreren Jahrzehnten Abstand, die Wiederholung einer vorgeblich einzigartigen installativen Arbeit versucht. Noch einmal stand die Kunstwelt Kopf: War das ein Marketingtrick, die Beerdigung der Performancekunst oder doch ein kluger Kommentar zum eigenen Werk und dem Betrieb, in dem es ausgestellt wird? Sie verweigert bis heute die einfache Deutung dessen, was sie tut. Am 30. November wird Marina Abramović 75 Jahre alt.

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