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Im rechtsextremen Labor

Von Lyon aus breitet sich ein nationalistischer Kulturkampf in ganz Frankreich aus

  • Philippe Pernot, Lyon
  • Lesedauer: 8 Min.

Der 21. März 2021 hätte eigentlich ein ganz normaler Sonntag in Lyon sein können. Auf den Straßen von Croix-Rousse, einem bei Tourist*innen beliebten Altbauviertel, ging es ruhig zu. Um 14 Uhr jedoch tauchte ein Mob von 50 bis 60 schwarz gekleideten Männern mit Motorradhelmen und gepolsterten Handschuhen auf. Sie marschierten durch die kleinen Gassen bis zur anarchistischen Bücherei »La Plume Noire« (Die schwarze Feder), wo gerade eine Essensausgabe stattfand. Mit Steinen warfen sie die Fenster ein und versuchten, in den Laden einzudringen. »Wir reagierten schnell, schlossen die Rollläden und konnten sie mit Pfefferspray davon abhalten, einzubrechen«, erinnert sich Julien, einer der Inhaber*innen.

Der Angriff dauerte gerade mal eine Minute, schockierte jedoch das ganze Viertel. Videos von dem Übergriff verbreiteten sich in ganz Frankreich. »Die Angreifer waren klar zu erkennen und trugen keine Masken. Rechtsextreme Katholiken, Hooligans und gewalttätige Identitäre konnten mitten am Tag von der Altstadt bis ins Viertel Croix-Rousse marschieren, eine linke Bücherei angreifen und dann noch ruhig zurücklaufen und mit einem gestohlenen Banner ein Foto machen«, kritisiert Julien mit Wut in der Stimme. »Zum Glück wurden nur die Fenster zerstört, niemand wurde verletzt, aber es hätte auch anders ausgehen können«, meint er.

In Lyon gehören rechtsextreme Gewalttaten zum Alltag. Sie passieren ein- bis zweimal im Monat, manchmal sogar öfter. Allgemein gilt die Altstadt Lyons als No-Go-Zone für Menschen, die nicht in das Weltbild der Rechtsextremen passen. Aber auch die linken Viertel Croix Rousse und Guillotière werden immer häufiger zum Schauplatz rechter Übergriffe.

Die meisten Betroffenen der rechten Gewalt sind Menschen, die als links oder migrantisch wahrgenommen werden. Sicherheitsbehörden schätzen die Zahl der gewaltsamen Rechtsradikalen in Lyon auf 150 bis 300 Personen. Laut der Webseite Rapports de Force gab es im Sommer 2021 doppelt so viele rechte Gewalttaten in Lyon als in jeder anderen Stadt Frankreichs.

»Lyon ist die Hauptstadt der Rechtsextremen, ihr Labor. Von dort aus verbreiten sie ihren physischen und kulturellen Krieg in ganz Frankreich«, erklärt Alain Chevarin, emeritierter Professor und Rechtsextremismusforscher in Paris, am Telefon. »Die Stadt ist katholisch und bürgerlich geprägt, die Heilige Maria ihr Symbol, daher wurde sie zum Zentrum der Gegner der Homo-Ehe. Die konservative Universität Lyon 3 hat die Verbreitung von heidnisch-identitären Ideen begünstigt, und die konservativen Bürgermeister haben jahrzehntelang die physische Gewalt der Rechten toleriert, solange sie sich nicht gegen die Stadt und ihre Symbole richtete«, analysiert er.

Das Besondere in Lyon ist, dass fast alle Arten des Rechtsextremismus dort zu finden sind. Der Rassemblement National, die Partei Marine Le Pens, ist relativ schwach vertreten. Dafür sind aber rechte Corona-Leugner stark sowie die katholischen Fundamentalisten der Civitas, die bürgerlichen Royalisten der Action Française und die antisemitische Parti National Français.

Von der Gewalt distanzieren sich die Royalisten. Keiner seiner Kameraden sei in gewaltsamen Aktionen verwickelt, sagt Hugo*, Leiter der Action Française Lyon. Das passe nicht zum Agieren der Royalisten. »Gewaltsame Menschen werden aus der Gruppe ausgeschlossen oder verlassen sie von selbst.«

Gewalttätiger gehen dagegen die Identitären vor, die in Lyon eine Bar und eine Boxhalle betreiben, obwohl ihre bekannteste Gruppe, die Génération Identitaire, im März verboten wurde. »Sie verteidigen eine weiße, quasi-arische europäische Identität gegen den Islam«, erklärt Chevarin. Hinzu kommen Gruppen, die eine Brücke zu den Neonazis schlagen: die revolutionären Nationalist*innen, deren zwei bekannteste Gruppen - Groupe Action Défense und Bastion Social - ebenfalls verboten wurden.

»Obwohl es ideologische Unterschiede zwischen ihnen gibt, kommen sie seit ein, zwei Jahren zusammen, um ihre Gegner physisch anzugreifen. Das war vorher weniger der Fall. Das ist ein beängstigendes Phänomen«, meint Chevarin.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass die rechtsextremen Gruppen gemeinsam den nationalistischen Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour unterstützen. Der rechtsextreme Journalist und Polemiker wurde wegen Aufrufs zu rassistischer Diskriminierung 2011 verurteilt und bisher in insgesamt 16 Strafverfahren wegen Rassismus, Antisemitismus und Vergewaltigungen angeklagt. Dass Zemmour heute als Kandidat antreten kann, liege nicht zuletzt daran, dass Rechtsextreme wie in Lyon nationalistische Ideen salonfähig gemacht haben, erklärt Chevarin.

Die Gewaltbereitschaft der Rechten scheint in Frankreich insgesamt zu steigen. Im vergangenen Jahr häuften sich die Vorfälle: Youtuber, die gegen arabisch, jüdisch, schwarz oder links aussehende Menschen wettern und Morddrohungen gegen missliebige Personen aussprechen; Putschprojekte und Terrorpläne, die regelmäßig von den Sicherheitsbehörden aufgedeckt werden und Medien wie die Fernseh- und Radiosender CNews und Europe1, die vom konservativen Milliardär Vincent Bolloré aufgekauft und zu Sprachrohren der Rechten geworden sind. »Die Atmosphäre in Frankreich ist grauenhaft, der Rassismus ist normal, und die Angriffe nehmen zu«, meint Julien vom Buchladen »La Plume Noire«. »Wir befürchten einen Gewaltausbruch im Mai 2022, wenn die Präsidentschaftswahl stattfindet. Wer weiß, was da passieren wird«, seufzt er.

Der anarchistische Buchladen La Plume Noire in Lyon war im März 2021 Ziel eines rechten Angriffs.
Der anarchistische Buchladen La Plume Noire in Lyon war im März 2021 Ziel eines rechten Angriffs.

Diese Sorge wird in Lyon von linken Gruppen geteilt. Feministische Demonstrationen, Paraden oder Kiss-Ins sind schon länger Ziel der Attacken von rechtsextremen Katholiken und Identitären. Allein im vergangenen Jahr mussten sich die Teilnehmenden von vier feministischen Veranstaltungen verteidigen, als Dutzende Rechtsextreme sie angreifen wollten. »Wir dachten eigentlich, dass ihre maskulinistische Einstellung sie davon abhalten würde, Frauen anzugreifen. Aber wir haben uns geirrt und mussten oft stabile Ketten bilden, um sie fernzuhalten«, erzählt Marion, die auf Demonstrationen Ordnerin von Planning Familial (Familienplanung) war, eine Organisation, die für sexuelle Gesundheit und Frauenrechte steht. Wütend erklärt sie, dass die LGBTQ-Loveparade von 2011 bis 2018 aus der Altstadt verbannt wurde. »Präfektur und Polizei meinten, sie könnten uns nicht gegen Rechtsextremisten beschützen. Das ist ein Skandal!«, kritisiert sie. »Aber wir haben gezeigt, dass wir uns selbst verteidigen konnten. Falls der rechtsextreme Kandidat Zemmour die Wahl gewinnt, werden alle feministischen Vereine Frankreichs offensiv antifaschistisch kämpfen müssen«, erklärt sie entschlossen.

»Menschen, die als Ausländer und Frauen wahrgenommen werden, erleben heute in Lyon schon ganz konkret, was in ganz Frankreich passieren wird, wenn es die Rechtsextremen an die Macht schaffen sollten«, sagen Safak und Sacha, Mitglieder von Jeune Garde (Junge Wache), einer 2018 gegründeten antifaschistischen Gruppe aus der Lyoner Vorstadt Villeurbanne.

»Wir wollen den rechten Diskurs abwehren, ob medial oder auf der Straße«, erklärt Raphael von Jeune Garde. »Unsere Kraft ist, dass wir in der migrantischen Arbeiterklasse verwurzelt sind und keine überkomplexen Debatten führen, sondern ganz pragmatisch und selbstkritisch vorgehen.« Damit meint er seine Auftritte in Talkshows und Medien, die durchaus umstritten sind, sowie das Bündnis der Gruppe mit den großen linken Gewerkschaften und Parteien. Inspiriert ist Jeune Garde durch die sozialistischen und kommunistischen Verbände der Zwischenkriegszeit.

Ihr Mitgründer Safak freut sich über die organisierte Gegenwehr, oft haben sie die rechten Angriffe abwehren können. »Jetzt haben die Faschisten Angst und müssen viel taktischer vorgehen, sie trauen sich nur noch zu 40 bis 50 zu kommen, um uns angreifen«, erzählt er. Er und seine Mitstreitenden sehen sich aber dennoch oft mit rechter Gewalt konfrontiert: »Wenn die Rechten mich sehen, holen sie ihre Messer raus«, sagt Raphael und erzählt, dass er Anfang September in Paris von der neonazistischen Kampfgruppe Zouaves und zwei Wochen später in Lyon von Identitären überfallen worden sei.

Häufig beklagen Antifaschist*innen eine passive Haltung des Staates gegenüber Rechtsextremen. Deutlich wurde dies nach einer Auseinandersetzung zwischen der autonomen Antifagruppe Gale und katholischen Fundamentalist*innen Mitte Dezember in Lyon. Sieben Mitglieder der Antifagruppe wurden daraufhin festgenommen und vor Gericht gestellt. »Der Staatsanwalt veranstaltete einen politischen Prozess gegen uns«, empört sich Axel, 29, Mitglied der Gruppe. »Die Polizei hatte Videos der Kameraüberwachung so geschnitten, dass wir als Angreifer dargestellt wurden. Die Katholiken, die uns provoziert und angegriffen hatten, wurden dagegen nicht festgenommen.« Stattdessen habe ein Polizist sogar noch mit ihnen telefoniert, um den Prozess zu organisieren.

Der »Prozess der Sieben« im Dezember lässt vermuten, dass Polizei, Staatsanwalt und Präfektur möglicherweise Kontakte mit rechtsextremen Gruppen pflegen, auch wenn dies offiziell niemand zugibt. Auch Axel von der Gruppe Gale behauptet dies: »Die Regierung, vor allem der Innenminister Gerald Darmanin, der in seiner Jugend der Action Française nahestand, hat die Rhetorik der Rechtsextremen gegen die ›woke‹ und ›islamistische‹ Linke weitgehend übernommen.« Nach Axels Ansicht ist das Verbot mehrerer rechter Gruppierungen reine Symbolpolitik.

»Der Staat interveniert meistens nur, wenn der öffentliche Druck zu groß ist oder er selbst direkt bedroht ist«, bestätigt auch Alain Chevarin, der Rechtsextremismusexperte. Er sieht jedoch eine Verbesserung der Lage, zumindest auf lokaler Ebene in Lyon: »In den letzten Jahren waren rechte Gewalttaten kein Thema. Jetzt werden sie von großen Medien immer mehr aufgedeckt und der neue Bürgermeister Lyons zeigt einen gewissen Willen, gegen diese Bedrohung vorzugehen.«

Allerdings hat weder das Polizeipräsidium, das Bürgermeisteramt noch die Präfektur auf unsere Interviewanfragen geantwortet. Über die Umtriebe der extremen Rechten wird offenbar noch immer nicht gerne gesprochen.

*Der Name wurde auf Bitten der Person verändert.

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