Die Wahrheit ist wie Nebel

Die Serie »L’Ora« spielt den Kampf einer kommunistischen Tageszeitung gegen die Mafia vor 63 Jahren nach

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein neuer Chefredakteur mit seinem Faible für die Machenschaften der Mafia reißt eine verschlafene Zeitungsredaktion aus dem Wachkoma.
Ein neuer Chefredakteur mit seinem Faible für die Machenschaften der Mafia reißt eine verschlafene Zeitungsredaktion aus dem Wachkoma.

Palermo tanzt. Wenn »il Principe« ruft, kommen sie schließlich alle: die Schönen und Reichen, die Weltlichen und Heiligen, die Giganten und Scheinriesen. So haben sich sämtliche Honoratioren aus Wirtschaft, Politik, Justiz und Klerus mit ihrer Entourage im barocken Palazzo des Fürsten versammelt, um zu feiern, was zu feiern ist: seine Allmacht und die Gnade, Siziliens Elite daran teilhaben zu lassen. Diese scheint ganz unter sich zu sein bei der neofeudalen Leistungsschau einer fabelhaften Serie des Bezahlsenders Sky.

Wäre da nicht dieser zugezogene Nestbeschmutzer, ein Querkopf ohne Kenntnis vom, ohne Bindung zum, ohne Respekt vorm ungeschriebenen Gesetz der Insel: niemals über die Cosa Nostra zu reden, auch nicht in Schriftform. Das aber tut dieser Antonio Nicastro und fällt damit aus dem Rahmen der Festgesellschaft. Schließlich ist er der fiktive Chefredakteur einer realen Zeitung mit Aufklärungsbedarf. Vier Jahre zuvor hingegen kümmerte sich das kommunistische Parteiblatt »L’Ora« noch weniger um bettelarme Arbeiter und Bauern, als das eigene Überleben. Es dauerte demnach bis zur Einstellung des ortsfremden Nicastro, um anno 1958 endlich auszusprechen, was kein Sizilianer bislang auszusprechen wagte, als handele es sich um Lord Voldemort: Mafia. Kaum ist der Neue im Amt, ziert das Unwort die Titelseite und setzt damit eine Eskalationsspirale in Gang, die ausgerechnet Silvio Berlusconis Medienkonglomerat Mediaset produzieren ließ. Bis zur Ära Nicastro zeigt der Zehnteiler die altehrwürdige »L’Ora« als verrauchten Ort routinierten Müßiggangs.

Statt über Elend, Korruption, Nepotismus zu berichten, schreibt die Redaktion damals lieber über das anstehende Verbot der Prostitution. Boulevardesk genug für etwas Aufmerksamkeit, aber zwei, drei Revolutionen entfernt von einem Kernthema sozialistischer Publizistik, das der junge Nachwuchsreporter Domenico (Giovanni Alfieri) aus seiner Heimatstadt Corleone nach Palermo bringt. Denn im - wie uns Coppolas »Pate« 1972 lehrte - Brutkasten italienischer Bandenkriminalität wurde ein Gewerkschafter entführt.

Eben noch kurz vorm Wachkoma, weckt der Fall mit Verstrickungen bis in die höchsten Kreise den Jagdinstinkt einer Gruppe schlafender Journalisten. Sie dringen so tief ins Gedärm der Cosa Nostra ein, dass die mit brutaler Gewalt reagiert. Spätestens, als zu Beginn der Serie ein Bombenanschlag das Verlagsgebäude erschüttert, wird daher in Rückblenden auf die Vormonate klar: das hier wird keine Berichterstattung, sondern ein Krieg. Und den führen beide Seiten mit allen Mitteln.

Anders als frühere Realfiktionen von der RAI-Legende »Allein gegen die Mafia« bis zum verstörend glaubhaften Sky-Thriller »Gomorrha«, wählen die Regisseure Piero Messina, Ciro D’Emilio und Stefano Lorenzi jedoch einen sehr künstlerischen Ansatz zur Inszenierung der erschütternden Wirklichkeit. Nach Büchern von Ezio Abbate, Claudio Fava und Riccardo Degni schildern sie die echten Ereignisse von 1958 als Musical im Operngewand. Und dass bereits der Vorspann ein bisschen an »Game of Thrones« mit Bleilettern, statt Burgzinnen erinnert, ist dabei gewiss kein Zufall.

Auch anschließend ist alles opulente Bildgewalt, jede Geste wirkt einstudiert, jedes Requisit drapiert. Besonders Claudio Santamaria, der seinen Chefredakteur Nicastro am Original namens Nistico orientiert, ohne ihn zu kopieren, brilliert mit Borsalino und Milchfimmel in einer artifiziellen Wahrhaftigkeit, die »L’Ora« locker allein tragen könnte.

Furios wird die Serie aber erst durchs Personal in einer Atmosphäre zwischen Arthouse und Hollywood: Der diebische Fotograf Dino, die abgebrühte Reporterin Anna, das kehlkopflose Redaktionsfossil Marcello - gemeinsam bilden sie eine Art todernste Commedia dell’arte für den Geschmack der Generation Netflix.

Und wie die frühbarocken Spaßvögel den Mächtigen einst mit einer Riege skurriler Figuren Spiegel der eigenen Lächerlichkeit vorhielten, so tun es 500 Jahre später nun Nicastros Reporter mit den Paten der Fünfziger und ihren Steigbügelhaltern.

Resultat ist eine der originellsten Serien-Formate übers organisierte Verbrechen seit »Breaking Bad«. Die Wahrheit sei wie Nebel, sagt »il principe«. Und weiter: »je näher man ihr kommt, desto weniger sieht man«. Dann stürzt er sich auf dem eigenen Fest zu Tode. Alles also ganz schön pathetisch bei »L’Ora«, alles aber eben auch erschreckend plausibel.

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