Verzweifelt im Heim

Die Plätze in Berlins Flüchtlingsunterkünften werden knapper. Der Senat versucht gegenzusteuern, zum Teil mit umstrittenen Ideen

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 8 Min.

Sebghatullah Safi sitzt auf dem Boden, schenkt Tee ein und blickt betrübt auf den Teppich, der den ganzen Raum einnimmt. «Die Heimleitung hat gesagt, dass der Teppich wegmuss, wegen Bettwanzengefahr», erzählt der afghanische Flüchtling und nimmt sich ein paar Nüsse aus einer Schale auf dem Abstelltisch in der Mitte des Raumes. Dabei sei es in der afghanischen Kultur üblich, auf dem Boden zu sitzen und nicht wie in Deutschland auf Stühlen oder auf dem Sofa. Safi lebt schon seit über sechs Jahren mit seiner Frau in einem Flüchtlingsheim in Berlin-Lichtenberg. Zwei Zimmer, Küche, Bad, alles in allem rund 40 Quadratmeter, die sie sich mit ihren drei kleinen Kindern teilen, die gerade durch die winzige Diele toben.

Richtig angekommen sind sie jedoch noch nicht. «Wir fühlen uns hier nicht zu Hause, eher wie Gäste», sagt Safi. Kein Wunder, wer Safi und seine Familie besuchen will, muss zunächst beim Sicherheitsdienst im Erdgeschoss sein negatives Testergebnis und seinen Impfnachweis vorzeigen - in dem Heim gilt eine strenge 2G-plus-Regel - und seinen Ausweis abgeben. Besuche über Nacht sind untersagt, alle paar Wochen werden die Zimmer inspiziert.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Teppich. «Wir dürfen keine gebrauchten Möbel kaufen, neue können wir uns aber nicht leisten. Dabei brauche ich dringend ein Doppelstockbett für die Kinder.» Also schläft die Familie auf Matratzen auf dem Boden, die sie tagsüber an die Wand lehnen, um genug Platz zu haben. «Für die Kinder ist es am schwersten», seufzt Safi. «Sie hören in der Schule, wie andere Familien leben, und fragen jeden Tag: »Wann bekommen wir auch eine eigene Wohnung?«

Seit Jahren versucht Sebghatullah Safi, eine Wohnung zu finden, ohne Erfolg. »Immer bekomme ich Absagen. Ich weiß nicht, woran es liegt, vielleicht an unserer Sprache«, sagt der Afghane in fast fließendem Deutsch. Wie ihm geht es vielen Geflüchteten. »Die meisten im Heim sind schon sehr lange hier«, berichtet Safi. Er war einer der ersten Schutzsuchenden, die Ende 2015 in das neue siebenstöckige Heim eingezogen sind. Seitdem hängen sie hier fest. Nur eine Handvoll Familien im Jahr würde den Absprung schaffen, doch zu einem hohen Preis, so Safi: »6000 bis 7000 Euro muss man zahlen, um eine eigene Wohnung zu bekommen.«

Viele Geflüchtete erzählen von dubiosen Wohnungsvermittlern, die sich mit der Not der Neuankömmlinge eine goldene Nase verdienen. »Ich kenne keine Familie, die nicht für ihre Wohnung bezahlt hat«, sagt Safi. Er ist arbeitslos, 7000 Euro Schmiergeld hat er nicht. Also bleiben die Safis hier im Heim und schlafen weiter auf dem Boden.

Von rund 21.000 Geflüchteten, die zuletzt in den 83 Flüchtlingsunterkünften der Hauptstadt lebten, haben im vergangenen Jahr gerade einmal 1783 eine eigene Wohnung gefunden - das sind 15 Prozent weniger als im Vorjahr. Dabei werden die Plätze in den Flüchtlingsunterkünften langsam knapp: Laut Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) sind 2021 mit fast 13.000 Menschen doppelt so viele Asylsuchende nach Berlin gekommen wie im Jahr zuvor. Die meisten von ihnen kommen aus Moldau, Georgien, Afghanistan, Syrien und Vietnam. »Wir mussten deshalb im letzten Jahr zahlreiche stillgelegte Standorte - etwa Tempohomes - reaktivieren, um alle Menschen zu versorgen. Auch im neuen Jahr setzen wir unsere Anstrengungen fort, um neue Plätze für Geflüchtete zu schaffen, denn der Zugang bleibt hoch«, sagt LAF-Präsident Alexander Straßmeir. Darüber hinaus prüfe man weitere Gebäude, ob sie sich zur Unterbringung von Geflüchteten eignen.

Sozial- und Integrationssenatorin Katja Kipping (Linke) will dafür auch leer stehende Hotels anmieten. Ein umstrittener Vorschlag. Nicht nur weil das weitaus teurer ist als reguläre Flüchtlingsunterkünfte, sondern auch weil windige Unternehmer dadurch in der Vergangenheit überdurchschnittlich viel Geld mit schlechten Unterkünften verdienen konnten. Das soll dieses Mal anders werden.

So gebe es seit mehreren Monaten eine »Taskforce Akquise« im LAF, die sich um die Anmietung und Unterbringung geflüchteter Menschen kümmere. »Die Anmietung erfolgt nach einem mit der Senatsverwaltung für Finanzen festzulegenden Mietrahmen«, sagt ein Sprecher Kippings zu »nd«. Im Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses habe man vereinbart, dass es bei dringender Anmietung von Unterkünften durch das LAF eine telefonische Konsultation der haushaltspolitischen Sprecher*innen der Fraktionen über die Konditionen gebe. »Verträge zum Betrieb der Unterkunft werden nach ortsüblichen Preisen abgeschlossen. Dafür gibt es ein Vergabeverfahren«, so der Sprecher weiter.

Um weitere Plätze in den Flüchtlingsunterkünften zu schaffen, hat die Integrationsverwaltung die Bezirke zudem gebeten, je 100 »statusgewandelte« Menschen in Einrichtungen für Wohnungslose unterzubringen. Denn rund die Hälfte der Heimbewohner*innen, also rund 10.000 Menschen, sind anerkannte Flüchtlinge und haben das Recht auf eine eigene Wohnung - finden jedoch keine. Die Bezirke sind davon wenig begeistert.

So hält Lichtenbergs Bezirksbürgermeister Michael Grunst (Linke) die Verschiebung von Geflüchteten in die sozialen Wohnhilfen der Bezirke für »in hohem Maße kontraproduktiv zu allen bislang integrationspolitisch gemeinsam verfolgten Zielsetzungen«. Grunst sagt: »Die Bezirke können keine eigenen Wohnungen anbieten.« Die Unterbringung laufe daher über das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG). In den entsprechenden Unterkünften gebe es, insbesondere in der kalten Jahreszeit, »eine erhebliche Belegungskonkurrenz« und niedrigere Unterbringungsstandards, so Grunst zu »nd«.

Auch Pankows Bürgermeister Sören Benn (Linke) hält wenig davon, Flüchtlinge in Einrichtungen für Wohnungslose unterzubringen. Zwar habe Pankow die geforderten 100 Plätze frei gemacht und die Geflüchteten anderweitig untergebracht, es müssten jedoch »dringend neue Kapazitäten geschaffen werden«, und zwar auf »neuer, qualitativ verbesserter Grundlage«. Denn die klassischen Wohnungslosen-Einrichtungen werden von privatwirtschaftlich organisierten Betreibern angeboten. »Die rufen in Zeiten knapper Unterbringungskapazitäten mitunter Preise auf, die den Eindruck erwecken, sich an dieser Unterbringungskrise bereichern zu wollen«, sagt Benn zu »nd«.

In Marzahn-Hellersdorf hat man Verständnis für den Vorstoß der Sozial- und Integrationssenatorin. Vor dem Hintergrund gestiegener Flüchtlingszahlen und der Corona-Pandemie, die eine Entzerrung der Belegung erfordere, könne auf diese Weise sichergestellt werden, »dass nicht nur Randbezirke wie Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Pankow einen Großteil der Geflüchteten aufnehmen, sondern dass nun auch die Innenstadtbezirke in die Pflicht genommen werden«, sagt Bezirksbürgermeister Gordon Lemm (SPD) zu »nd«.

950 Geflüchtete wurden laut Senatsintegrationsverwaltung von Oktober bis Mitte Dezember in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe verlegt. Einer von ihnen ist Esamaddin Alkuzi. »Ich kam nach dem Deutschkurs nach Hause und hatte ein Schreiben vom Bezirksamt, dass wir nächste Woche umziehen müssen«, erzählt der Afghane. Die neue Unterkunft liegt im Lichtenberger Ortsteil Friedrichsfelde, eine halbe Stunde von seinem ehemaligen Flüchtlingsheim entfernt.

Weil er noch keinen Kitaplatz gefunden hat, bringt er seinen fünfjährigen Sohn jeden Morgen in die Kita nahe dem Heim, in dem der Junge aufgewachsen ist. Die neue Unterkunft sei teurer als vorher, sagt Alkuzi, wie zuvor hat die fünfköpfige Familie zwei Zimmer zur Verfügung, nur dass sie sich jetzt Bad und Küche mit anderen Familien teilen müssten und es keine Türen gebe. »Das ist schwierig mit drei Söhnen, der Kleine muss schlafen, der 14-Jährige lernen, und der 20-Jährige will Musik hören«, erzählt der Familienvater. Seit vier Jahren ist Alkuzi anerkannter Flüchtling, hat alle nötigen Unterlagen für eine eigene Wohnung, sogar einen Wohnberechtigungsschein. Doch auch er findet nichts. »Ich will nicht immer im Heim wohnen«, sagt er verzweifelt.

»Es ist ein Unding, Menschen, die seit Jahren in einer Unterkunft leben und in der Nachbarschaft sozial verankert sind, von einem Tag auf den anderen in eine andere Unterkunft umzuverteilen, wie es derzeit geschieht«, kritisiert Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin. Dabei würden »irrsinnige« Tagessätze an private Profiteure fließen: »Für sieben Personen in einem 35-Quadratmeter-Appartement in einem Hostel in Moabit zahlt das Bezirksamt Mitte über 7000 Euro pro Monat«, nennt er ein Beispiel. Grundlage sei ein Tagessatz von 35 Euro pro Person und Tag - ohne Sozialarbeit und ohne Verpflegung.

»Leider ein üblicher Preis. Dabei sind die Zustände in solchen Unterkünften oft katastrophal, Überbelegung, Bettwanzen und so weiter«, so Classen zu »nd«. Statt die Verantwortung an die Bezirke abzuschieben, fordert der Flüchtlingsrat, Vergabe, Verträge, Qualitätsstandards und Kontrolle für die ASOG-Unterbringung einheitlich beim Land Berlin anzusiedeln. Generell müsse Senatorin Kipping mehr tun, um den Auszug aus den Sammelunterkünften zu erleichtern, sagt Classen. Zudem müsse privates Wohnen von Anfang an erlaubt werden: »Manche werden in Sammelunterkünfte eingewiesen, obwohl sie eine private Wohnmöglichkeit haben.«

Dem LAF zufolge wurden im vergangenen Jahr 14 Unterkünfte mit knapp 3000 Plätzen in Betrieb genommen; in diesem Jahr sollen 2100 neue Plätze geschaffen werden. Die Standards sind dabei allerdings recht unterschiedlich. So gibt es im Containerdorf auf dem Tempelhofer Feld, in dem gerade erst 280 der insgesamt 1024 Plätze reaktiviert wurden, eigene Appartements für je vier Personen mit direktem Zugang ins Freie. Das Containerdorf in Pankow, wo bis zu 500 Plätze entstehen sollen, gehört hingegen zu der Generation von Unterkünften mit beengten Gemeinschaftssanitäranlagen und -küchen.

Für Lichtenbergs Bürgermeister Grunst ist die Vermittlung kommunalen Wohnraums »ganz klar die bessere Alternative«. Sein Bezirk habe den Senat daher ersucht, entsprechende Kontingente bei kommunalen Wohnungsbaugesellschaften zur Verfügung zu stellen. Auch sein Pankower Amtskollege Benn fordert den Senat auf, mit großen Wohnungsbaugesellschaften deutlich mehr Belegungsrechte für am Wohnungsmarkt benachteiligte Gruppen wie Geflüchtete zu vereinbaren, sowohl im Bestand als auch im Neubau.

Einer Geflüchtetenquote für landeseigene Wohnungen steht Kipping bislang jedoch skeptisch gegenüber. Der Senat wolle allerdings prüfen, »ob und in welchem Umfang die landeseigenen Wohnungsunternehmen Quoten zur Versorgung einzelner Personengruppen zur Verfügung stellen sollen«.

Esamaddin Alkuzi hat noch eine andere Idee, wie die Unterbringungskrise angegangen werden könnte: »Wenn alle leer stehenden Wohnungen in Berlin vermietet werden würden, wäre das Problem gelöst«, glaubt er. »Wir renovieren auch selbst.«

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