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Eine dringliche Mahnung an die Zukunft

Berlinale-Wettbewerb: Der Film »Call Jane« erzählt die Geschichte eines Underground-Kollektivs im Chicago der 60er und 70er Jahre, das Frauen trotz Verbots einen sicheren Zugang zu Abtreibungen anbot

Joy (Elizabeth Banks) wandelt sich in »Call Jane« von einer bürgerlichen Hausfrau zur Frauenrechtlerin.
Joy (Elizabeth Banks) wandelt sich in »Call Jane« von einer bürgerlichen Hausfrau zur Frauenrechtlerin.

Ein Krankenhaus-Gremium muss abstimmen, ob ein therapeutischer Schwangerschaftsabbruch genehmigt werden darf. Es besteht die Gefahr, dass die Mutter bei der Geburt aufgrund einer Erkrankung stirbt. Das Gremium besteht nur aus Männern. Die Schwangere ist die einzige Frau im Raum. Die Männer reden über sie in der dritten Person, als wäre sie nicht anwesend. Ein Mann fragt den behandelnden Arzt, ob es eine Chance gibt, dass das Kind gesund zur Welt kommt. Der Arzt bejaht. In Anbetracht dieser Chance schlägt der Vorsitzende vor, den Antrag abzulehnen. Die Frau fragt fassungslos: Was sei denn mit dem Leben der Mutter? Die Männer ignorieren sie und stimmen alle gegen die Genehmigung.

Es ist das Jahr 1968. Joy (Elizabeth Banks) ist Hausfrau, wohnt mit ihrem Mann (Chris Messina) und der gemeinsamen 15-jährigen Tochter in Chicago. Nun ist sie zum zweiten Mal schwanger und dadurch gefährdet. Ihr Arzt gibt ihr nach dem Misserfolg bei der Genehmigung einen Rat: Wenn sie zwei Therapeuten überzeuge, dass sie wegen ihrer Situation selbstmordgefährdet sei, könnte es sein, dass das Krankenhaus ihr Anliegen noch einmal prüfe. Joy ist verzweifelt, tatsächlich kurz davor, sich die Treppe runterfallen zu lassen. An einer Bushaltestelle stößt sie auf eine kurze Anzeige: »Schwanger? Hast Angst? Ruf Jane an!«

Der Spielfilm »Call Jane« der US-Regisseurin Phyllis Nagy basiert auf der wahren Geschichte eines Chicagoer Frauen-Kollektivs, das sich Die Janes nannte. Der Film läuft im Wettbewerb der 72. Berlinale und feierte seine Weltpremiere kurz zuvor auf dem US-Filmfestival Sundance in Utah. Interessanterweise lief gleichzeitig noch eine weitere Dokumentation - »The Janes« von den Regisseurinnen Tia Lessin und Emma Pildes - beim Sundance, die sich mit der Entstehungsgeschichte dieses Kollektives beschäftigt.

Die Charaktere in »Call Jane« sind lose an reale Jane-Mitglieder angelehnt. Besonders stark ist die schauspielerische Leistung von Sigourney Weaver, die die Rolle der Gründerin Heather Booth spielt. Im Film heißt sie Virginia. Booth engagierte sich als Studentin in der Frauenbefreiungsbewegung Ende der 60er Jahre in Chicago. In jener Zeit waren Schwangerschaftsabbrüche in den USA verboten. Um einer Freundin zu helfen, die auf dem Uni-Campus vergewaltigt und schwanger geworden war, nahm Booth Kontakt zu einem afroamerikanischen Chirurgen und Bürgerrechtsaktivisten auf, der bereit war, eine Abtreibung durchzuführen. Es meldeten sich daraufhin weitere ungewollt Schwangere. So gründete Booth mit einigen anderen Frauenrechtaktivistinnen eine Untergrundorganisation, um Frauen sichere illegale Abtreibungen anzubieten.

Der Chirurg wurde verhaftet. Das Kollektiv fand einen anderen Arzt. Er verlangte jedoch viel Geld für seine Arbeit. So baten die Janes die reicheren Frauen, wenn möglich, mehr zu zahlen, damit einige ärmere für weniger Geld behandelt werden konnten. In der Dokumentation »The Janes« kommt jener Arzt zu Wort. Es sei halt ein Job gewesen. »Ich dachte, Abtreibung ist wie ein Pelzmantel, viele Frauen möchten ihn haben, aber nur einige können sich einen leisten.«

Nach etwa einem Jahr stellte sich heraus, dass er kein Arzt war, sondern sich die Prozedur selber beigebracht hatte. Als den Janes offenbar wurde, dass ein »normaler« Typ das machen konnte, entschieden einige, die Sache nun selber in die Hand zu nehmen. Seitdem führten die Frauen die Abtreibungen oft auch kostenlos durch.

Mit umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen mussten die Janes ihre Aktivitäten vor dem Staat, der Polizei, sogar der Mafia schützen. »Und überall waren Männer an der Macht, die die Frauen unterschätzten, das hat für uns ganz gut funktioniert«, sagt eine der Janes in der Doku. Schwangere Frauen wurden von den Jane-Mitgliedern abgeholt, zu einem Treffpunkt gebracht, damit sie Beratung und Informationen zum Prozedere bekommen. Dann wurden sie zu einem zweiten Ort weitergefahren, an dem die Abtreibung stattfand. Danach blieben sie noch für zwei Wochen in Kontakt mit den Frauen, um sicherzugehen, dass sich keine Komplikationen einstellten.

Joys Charakter ist von mehreren Jane-Mitgliedern inspiriert. Vor allem von einer Frau namens Jody, die verheiratet war und zwei Kinder hatte. Als sie zum dritten Mal schwanger war, wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Sie stellte einen Antrag auf eine legale Abtreibung in einem Krankenhaus, dessen Personal zu 95 Prozent männlich war. Das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch war für sie kein politisches Thema, bis sie selber betroffen war. In der besagten Dokumentation erklärt Jody, dass sie sich wie eine Gefangene des medizinischen Systems gefühlt habe. »Das männerdominierte Medizin-System hatte die Kontrolle über die Frauenkörper. Der Kampf war für mich, die Kontrolle zurückzugewinnen.« So schloss sie sich dem Jane-Kollektiv an.

Phyllis Nagy, die für ihr Fernsehdrama »Mrs. Harris« (2005) und das Drehbuch zu »Carol« (2015) bekannt ist, gelingt es in »Call Jane«, die Entwicklung einer »normalen« wohlhabenden Hausfrau zum Mitglied einer feministischen Underground-Gruppe ganz schlicht, frei von Pathos, sogar mit gewissem Humor zu zeigen. Beeindruckend sind auch die heiklen Diskussionen im Kollektiv - ob einige Schwangere vorrangig behandelt werden sollen. Kommt etwa eine 15-Jährige eher infrage, deren Zukunft durch die Schwangerschaft ruiniert wird? Oder eine, die vergewaltigt wurde? Dürfen die Janes überhaupt darüber befinden, aus welchem Grund eine Frau abtreiben möchte? Oder sollten sie nur Hilfe anbieten, ohne zu urteilen?

Ungefähr 11 000 illegale Abtreibungen haben die Janes zwischen 1969 und 1973 durchgeführt, niemand ist dabei gestorben. 1972 überfiel die Chicagoer Polizei eine der von den Janes genutzten Wohnungen und nahm dort sieben Jane-Mitglieder fest. Sie wurden jeweils mit 110 Jahren Gefängnis bestraft. Ein Jahr später fällte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten eine Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht. Die Entscheidung ist als »Roe v. Wade« bekannt. Infolgedessen wurde auch das Urteil gegen die inhaftierten Janes aufgehoben.

Und jetzt, fast 50 Jahre später, droht dieses Grundsatzurteil in den USA wieder gekippt oder verschärft zu werden. Bereits im Sommer steht dazu eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs an. Daher erinnern Filme wie »Call Jane« und »The Janes« nicht nur an eine Zeit, als es kein Abtreibungsrecht gab, sie sind eine dringliche Mahnung an die Zukunft.

»Call Jane«, USA 2022. Regie: Phyllis Nagy, Buch: Hayley Schore, Roshan Sethi. Mit: Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Chris Messina, Wunmi Mosaku, Kate Mara. 121 Min. Termine: Do 17.2., 15 Uhr: Friedrichstadt-Palast; Sa 19.2.,12 Uhr: Berlinale-Palast.

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